RotFuchs 202 – November 2014

Gisela Steineckert: Hand aufs Herz

Gisela Steineckert

Nun ist es November. Der August entblößt uns die Haut, der November verlockt eher zu wärmenden Gedanken. Schon einen an Weihnachten? Den wehren wir noch ab, aber ein ruhiger Abend mit alten Liedern hilft der Seele auch, gegen das frühe Dunkel, auf die Beine. Ach, bald kommt das neue Jahr, und was für eins liegt dann hinter uns?

Ein umfassend heißer Sommer, überwiegend mit kalten und erschreckenden Nachrichten. Unangemessenheit wurde zum Stil. Fast jeder Sprechende in den Medien brachte seine persönliche Empörung über den Stand der östlichen Dinge ein. Das erinnert an die Zeit vor fünfundzwanzig Jahren. Wir erkennen den Stil wieder. Damals ereiferten sie sich auch so.

„Den krummen Baum der Menschheit hat noch keiner gerade gebogen.“ Ein berühmter Satz von Immanuel Kant. Ja, Sprüche sind etwas sehr Schönes.

Man trägt sie durchs Leben, und nimmt sie in jede neue Liebe und jede neue Wohnung mit. Wie eine getrocknete Rose oder das erste Poesiealbum. In meins hat die doofe Evi geschrieben: „Ich lag im Garten und schlief, da kam ein Englein und rief …“ Na, was wohl? Sie solle mir was ins Stammbuch schreiben. „Der Führer hat dich gemacht, und hat uns die Ewigkeit gebracht. Das wünscht dir Horst.“ Er war zwölf und dachte damals, was er schrieb.

„Man muß im Leben für alles bezahlen“, sagte mein Opa, der behauptete, er sei Sozialdemokrat. Dafür fehlte jeder Beweis. Für sein Verhalten in der Pogromnacht 1938 habe ich ihn später verehrt. Er hat seine Meinung innerhalb der Familie deutlich gemacht. In jener Nacht war das viel.

Später war ich frei von der Unterlegenheit durch Armut und Unbildung. Vor mir lag die Chance zur eigenen Meinung. Ich war gierig auf Erkenntnisse, und dankbar für Belehrung. Es gab Einflüsse, die frühen Irrtum mit sich brachten, aber auch moralische Grundsätze, die ich fürs ganze Leben behielt.

Am 25. Jahrestag der Befreiung war ich für unser Jugendmagazin auf Reportagereise in den baltischen Ländern der Sowjetunion.

Den achten Mai verbrachte ich in einem Hotel in Tallinn. Das war gefüllt mit Kriegshelden, zur Siegesfeier aus ihrer heimatlichen Union angereist.

Ich hätte sie gern ausgefragt, ihre Hände geschüttelt, ihre Wangen geküßt, mich bei ihnen ganz persönlich bedankt. Was sie geleistet und erlitten haben, was sie überstehen mußten, das wußte ich, es gab ja darüber genügend Aufklärung. Fadejews „Junge Garde“ und der Dokumentarfilm „Du und mancher Kamerad“ von G. Rücker, K.-E. von Schnitzler und den Thorndikes hatten mir, unter anderem, geholfen.

Aber dieses Wissen und die Begegnung mit den ruhmreichen Männern, das waren zwei verschiedene Dinge. Warum? Wir begegneten uns auf der Straße vor dem Hotel. Sie gingen zu ihrer Feier, wenige am Stock, manche noch in mittleren Jahren, andere hoch aufgerichtet und sehr breitbeinig. Jeder von ihnen war schwer beladen mit Orden und Medaillen, dicht und übermäßig. Sie sprachen russisch, sehr laut, in dieser baltischen Stadt, in der ich am Abend zuvor von Beschwernissen erfahren hatte. Es ging um die unterdrückte Landessprache in der Schule, um die eigene Kultur. Man erzählte mir, daß die alten estnischen Volkslieder bei öffentlichen Auftritten verboten gewesen seien, bis die berühmte alte Volkssängerin sich ohne Genehmigung im Park in eine Kurmuschel gestellt habe, und daß sie dort die verbotenen Lieder ohne instrumentale Begleitung sang. Es fanden sich fast 100 000 Mitsänger ein – und danach wurde das Verbot aufgehoben.

Die Männer waren Helden. Die Klunkern auf den alten Uniformen, hoch verdient. Aber sieht es nicht derzeit so aus, als hätte ihr entbehrungsreicher Kampf nur einen historischen Etappensieg erbracht? Statt einer weltweiten Belehrung zugunsten des Weltfriedens? Dieser Gedanke kam mir viel später, damals hatte ich nur schwankende Empfindungen. Ich wollte nicht, daß sie so auftraten, in einem Land, in dem ihresgleichen von vielen Bürgern als Besatzung empfunden wurden. Die Folgen reichen ja bis heute. Ich konnte und wollte das damals nicht zulassen, noch werten, aber es ging mir in die Nacht nach.

Dann aber besuchten wir Anatol, den ich nie vergessen werde. Wir hörten, im ehemaligen „Haus der Schwarzen Ritter“ gäbe es einen erfolgreichen Jugendklub, mit vielen Arbeitsgruppen und Zirkeln. Das stimmte, und Anatol war der Leiter. Bei ihm konnte getanzt, gesungen, diskutiert, gelehrt und gelernt werden. Ein kleiner Jude, einziger Überlebender seiner Familie. Den Tod seines Vaters hat er miterlebt. Mit sechzehn Jahren war Anatol an der Befreiung Tallinns beteiligt. Nach dem Sieg hat er seine Waffe an einem Baum zerschlagen und sich geschworen, nie wieder eine in die Hand zu nehmen. Diesen Schwur mußte er brechen, als die bewaffneten Rechten eine Konterrevolution anzettelten.

Anatol gehört zu den Lieben meines Lebens. Ich hatte nur ein paar Stunden mit ihm und seiner Arbeit, aber im Oktoberklub habe ich versucht, etwas von seinen Ideen ins Leben zu bringen.

Über meinen Besuch im litauischen Salaspils, dem Mordlager für Frauen und Kinder, möchte ich jetzt nichts sagen. Nur, daß es russische Begleiter waren, die mich dort in die Arme genommen und zu trösten versucht haben. „Du warst ein Kind“, haben sie gesagt, und „Kinder sind immer unschuldig.“ Das stimmte so nicht, ich wußte es und werde es lebenslänglich wissen, aber dort gewesen zu sein, wo der Herzschlag der Mutter Tag und Nacht durch das Lager hallt, auch das hat aus mir gemacht, die ich bin.

Neben der Verzweiflung wohnt im Leben auch immer der Trost. Wir gesunden, wenn auch oft nicht gleich. Aber manchmal … also, wir kamen nach Moskau, und das Jugendmagazin dort lud uns zu einem Abend mit anderen Gästen. Die kamen herein, herrliche Kerle, die internationale Besatzung der Ra, des Papyrusbootes von Thor Heyerdahl. Einer der Männer war Afrikaner, sehr schön, dunkelbraun, und als er mich reden hörte, sagte er: „Mensch, bin ick froh, dett ick ma’ wieda deutsch reden kann, ick bin ja schon janz vonne Rolle.“ Und dann schnatterte er im reinsten Berlinisch über seine Kinderfrau, bei der er deutsch gelernt hat. Hat er nicht, aber ich habe ihm das nicht gesagt. Um Punkt zehn Uhr gab es einen Pfiff vom Kapitän, und sofort sprangen die Männer auf, formierten sich, und weg waren sie.

Ich konnte weiterreisen, aber in Rußland kommt man nicht weit bis zum nächsten Schlag auf das Herz.

Die „Prawda“ hat mich nach der Reise um einen Artikel ersucht, ich habe ihn geschrieben und bekam danach Briefe, die mich mit ihrer Güte, ihrem Großmut und ihrem Willen zum Frieden bis heute beschäftigen. Der ehemalige Pilot und der Lehrer, der im Krieg in vorderster Front war, schrieben mir über ihre Mütter. Auch von denen bekam ich Briefe.

Wenn ich die Namen der Städte höre, um die jetzt gekämpft wurde, Slawjansk oder Mariupol, Donezk oder Lugansk, dann fällt mir ein, daß ich einige dieser Namen kenne: aus den Erzählungen von damals urlaubenden Wehrmachtssoldaten. Schreiben durften sie das ja nicht.

Ich war am Ladogasee, wo einst Hütchen auf dem Wasser schwammen. Mehr war vom Rettungsschiff für Kinder aus dem belagerten Leningrad nicht geblieben.

Ich wollte unbedingt ins Museum der Belagerung. Die Genossen rieten ab, ich sei zu erschöpft und sähe auch so aus.

Wird es von den jetzigen Kämpfen ein neues Museum geben? Und werden darin die Zeugnisse ebenso aufs Herz schlagen, ebenso zornig machen, so verzweifelt, wie ich es an jenem Tag war? Ich fühlte mich sehr alt und sehr wehrlos, bis ich mich selber ermahnte: Wenn du so fühlst, mußt du auch so denken. Und handeln, nicht wahr? Leichter gesagt als getan. Aber ich versuche es.