RotFuchs 199 – August 2014

Gisela Steineckert: Hand aufs Herz

Gisela Steineckert

Die Kinderhymne von Bertolt Brecht kannte bei uns jeder, dachte ich. Es wurde erzählt, Brecht habe den Text für eine neue Nationalhymne der DDR geschrieben, aber dann wäre doch der Text von Becher gewählt worden.

Dagegen ist nichts zu sagen. Ich kann mir Brechts Verse nur schlecht von lampenfiebrigen Fußballern gestottert vorstellen. Zur Pflichtnummer taugt die Dichtung nicht. Bechers „Auferstanden aus Ruinen“ traf die Zeiten, und ich hätte mit unserer Nationalhymne weiterhin gut leben können.

Die Internationale bleibt unantastbar durch die lange geschichtliche Erfahrung der Unterdrückten. Ich habe sie oft mitgesungen, und auch mir war es eng in der Kehle, wenn Anlaß und Hymne zueinander paßten.

„Anmut sparet nicht noch Mühe …“ ist einer der schönsten Texte, die in der deutschen Sprache nach dem zweiten Weltkrieg entstanden sind.

Bis vor kurzem nahm ich an: Jeder, der in der DDR gelebt hat, kennt dieses Lied, es ist zum Volkslied geworden. Ich zitierte im Gespräch mit einer jüngeren Frau eine Zeile daraus. Sie sagte: „Bei uns in der Schule, in den achtziger Jahren, wurde der Text nicht behandelt.“ Die Frau ist gebildet, es wäre ihr nicht entfallen.

Meine Enkelin kennt das Lied, aber „von Zuhause“, und sie kannte den Titel nicht.

Ist uns da unterwegs etwas verlorengegangen, das unsere Zeit meinte und eine Mahnung sein sollte, Vergangenes nicht zu vergessen und die Zukunft besser zu gestalten? „… und weil wir dies Land verbessern …“ heißt es doch.

Kann das der Grund gewesen sein, das Lied auf einen hinteren Platz zu stellen? Aber da bleibt es nicht. Es ist auf einmal ganz nahe, ganz intim. Das Wort Anmut ist eines der schönsten in unserer Sprache. Ihm fehlt das manchmal schnarrende errr; kein Zischlaut stört das dunklere Fließen in der zweiten Silbe. Ich liebe dieses Wort. Wie aber soll man erreichen, was es fordert, wonach es verlangt?

Nicht zu sparen, nicht an der Mühe, und nicht an jener Anmut, mit der es sich leben und klüger werden läßt.

Anmut, das kann eine Art zu gehen sein, oder wie jemand sein Recht verteidigt, auf seiner Würde besteht, endlich die aller anderen einfordert. Es braucht dazu den Reichtum der Leichtigkeit, aus der die Anmut sich entfalten kann. Gemeint ist ja nicht die stille bescheidene Manierlichkeit, die auf Erziehung in der Kindheit deutet. Die anmutige Geste kann aus einer klugen, ruhigen Antwort bestehen. Anmut bedarf einer Mühe, die nicht mehr zu bemerken ist, sondern ganz natürlich dem eigenen Wesen zu entsprechen scheint. Ohne Bemühung wird das nicht gehen, geht es ja nie. Das Schöne, das Gelingende bedarf ihrer immer. Aber lustvoll muß sie sein, leidenschaftlich und im Grunde heiter. Das Böse ist nicht anmutig, nie. – Das Anmutigste, was ich je gesehen habe, war ein Kreis alter Frauen in Georgien. Sie zeigten uns ihre Handarbeiten, sangen zuerst für uns ein altes gregorianisches Lied; dann stimmte eine ein Partisanenlied an, und sie sangen es alle, mit alten Augen, die sich jung erinnerten, mit Schultern, die sich hoben, stolzen und zugleich wehen Blicken zurück in die Vergangenheit. Sie schlossen uns nicht aus, aber wir waren draußen, und sie hatten das Recht und waren uneinholbar anmutig. Was sie ausstrahlten, war auch der Lohn aller Schwerarbeit ihres Lebens, und wir konnten nur annehmen, nur unsere Tränen unterdrücken oder zeigen, und diese Frauen, diese Mütter gefallener Söhne, umarmen.

Wir müssen ihn zulassen, den rastlosen Kopf, der uns seine Bilder aufzwingt, aber auch Mut macht, uns nicht zufriedenzugeben. Und der uns warnt, das Erreichte nicht geringzuschätzen.

Es braucht die Leidenschaft – ja, Brecht! –, die uns aufstört und Kraft entfaltet, auch wenn sie sich gelegentlich überfordert zeigt. Die Leidenschaft der Verneinung muß uns bleiben, weil sich zum längst Gewußten immer neue Beweise gesellen. Der Widerstand wird gebraucht, weil sich die Schere zwischen oben und unten immer weiter öffnet. Ehe der Krieg beginnt, kannst du ihn sehn.

Nie wieder Krieg! Das war und bleibt unsere Losung. Die kam uns aus dem Herzen.

Wir hatten überlebt, das war beinahe ein Wunder. Und wurde Alltag. Beschwerlicher oft, aber das hielten wir aus. Und gewannen einen wachen Blick für den Stand der eigenen Dinge, und für die Angelegenheiten der Welt. Wir wollten nichts tun, nichts, weswegen andere Völker „vor uns erbleichen“.

Wir brauchen den Mut vom Anfang, und den gegen die neuen Gefahren auch.

Erwachsen werden muß unser Verstand, der ganz zu Unrecht im Verdacht steht, das Kalte zu wählen und das Heißherzige weniger zu achten. Um die Gefühle muß uns nicht bange sein. Wir sind nicht verantwortlich für jeden, der aufgibt. Andere haben ihre eigenen Erfahrungen, und die Steine auf ihrem Weg mögen gerade zu groß sein, um sie zu heben. Wichtig ist, daß wir bei unseren einfachen Wahrheiten bleiben, so schillernd uns die Welt das auszutreiben sucht.

Ich hatte meine Schwächen, auch an eigenem Versagen zu leiden, und ausreichend Folgen zu tragen. Es ist nicht wahr, daß „ganz unten“ die besseren Menschen sind. Dort komme ich her, und ich habe gesehen, wie er beäugt wird, der andere, der von woanders kommt, anders aussieht und anders betet. Arm sein bedeutet nicht, andere Arme als gleichwertig aufzunehmen.

Ich möchte sein wie alle und möchte, daß wir alle anders werden, als wir geboren und erzogen wurden, oder als wir glaubten, werden zu müssen, um dazuzugehören.

Gilt das nur für meine Generation, die tragische und verbrecherische Irrtümer austragen mußte? Mit aller Mühe und wachsendem Verstand, so, daß uns manchmal die Anmut schmal wurde, kantig geriet, in eine Härte auszuarten drohte, aus der die Unzufriedenheit der vielen wuchs.

Das Land, in dem ich nun lebe, scheint mir veränderungsbedürftig. Will mir nicht als „das Liebste … scheinen, so wie andern Völkern ihrs“. Es versucht, so reich wie möglich und so feige wie nötig zu sein, während es dreist tut. Viele seiner Politiker sind nicht einmal schlau, von Klugheit zu schweigen.

Sie benutzen die Wahlen zum eigenen Ruhm und halten sich an kein posauntes Wort. Mit ihrer erbärmlichen Sprache suchen sie eher zu verbergen als aufzuklären oder mitzuteilen. Wenn sie uns etwas versprechen, glauben wir ihnen inzwischen nicht. Wir kennen die lange Bank, auf die sie alles schieben, was ihre nächste Wahl gefährden könnte. Sich für Fremde zu schämen ist unvermeidlich, wenn an ihrer erbärmlichen Haltung ablesbar wird, daß sie wider besseres Wissen deklamieren, angeben, heucheln. Es gibt keinen Grund, auf eine Regierung stolz zu sein, die nur die Wirtschaft als Wert gelten läßt. Sich also von denen abhängig macht, die Geld hauptsächlich zum eigenen Nutzen vermehren wollen. Nun ja, bei ausreichendem Verdienst wartet dann der gut gepolsterte Ruhestuhl im Aufsichtsrat.

Das alles ist bekannt und alt. Und doch auch wieder neu, weil sie ja so nicht angetreten sind. Sie dulden nun auch das Geschwafel eines Präsidenten, der sich unentwegt in internationale Politik einmischt und die Macht wie eine Droge genießt. Er redet wie mit Stahlhelm und Koppel. Wer hat das hohe Amt dem Mann so angepaßt?

Dieses geschichtlich belastete Deutschland schlägt sich auf die Seite der Schlagenden und gibt die Schuld denjenigen, die versuchen, trotz aller Provokationen besonnen zu bleiben und es nicht zu einem dritten Weltkrieg kommen zu lassen. Respekt!

Tun auch wir, was möglich ist.