RotFuchs 196 – Mai 2014

Gisela Steineckert: Hand aufs Herz

Gisela Steineckert

Auch dieser bittere Frühling wird von überwältigender Schönheit sein. Ich erfreue mich wieder an Maiglöckchen und erliege dem Duft von blauem und weißem Flieder.

Ich wurde im Mai geboren, aber es gibt keinen weiblichen Stier. Ich bin eine Kuh, ein ziemlich blödes Tier. Das weiß ich, seit ich die Kühe hüten mußte, immer einen unendlich langen Tag, ohne Uhr, ohne Brot – und ohne ein Buch. Ich habe gar nichts gelernt, von den Kühen, und die nichts von mir.

Aber das stimmt auch nicht. Ich kann seit damals meist auf die Minute genau sagen, wie spät es gerade ist.

Ich mag meine Geburtstage nicht und möchte sie nicht feiern. Manchmal haben das liebe Menschen für mich durchgesetzt. Als Kind habe ich mich vorher übermäßig gefreut, jedes Jahr. Und dann war nichts, gar nichts. Wehrt man sich zu lange, könnte es wieder so werden.

In dem Land, in dem ich die Kühe hütete, galt der Geburtstag nichts, nur der Namenstag wurde beachtet.

Dieser Frühling, erwartet wie jeder nach der Kälte des Winters, weist alle kindlichen Enttäuschungen zurück in das Fach „übertriebene Gefühle“.

Damals, im Mai vor fast siebzig Jahren, waren wir noch nicht erwachsen, aber wir haben gesehen, wie sich das überlagerte, die Erleichterung über das Ende des Krieges, und das Entsetzen darüber, daß nun, unaufhaltsam, die Folgen der Verbrechen ins eigene Leben reichten.

Die Niederlage war unser Glück, und die Naziverbrechen wurden im Laufe der Zeiten eine stete Quelle der Belehrung.

Wir, die Halbwüchsigen von damals, können unser Leben niemals in Erinnerungen erschöpfen, die nur unser persönliches Reifen und Werden betreffen. Wir wissen über die mehr als fünfzig Millionen Opfer; es gibt eine nie aufzulösende Bitterkeit, eine Last auf der Seele. Warum? Weil wir nur zu jung waren, um schuldig zu werden, ein oder zwei Jahre zu jung. In den letzten Monaten, beim letzten Aufgebot, galt das auch nicht mehr. Und wir waren nicht zu jung für Gift im Hirn. Nun haben wir auszuhalten, daß uns die Erinnerung an Schulaufsätze beschämt. Unser Kopf behielt Haßlieder, und wir hoben den rechten Arm.

Später sind wir vordem verfolgten Menschen begegnet und haben sie verehrt oder geliebt, wir haben ihre Freundschaft gewonnen, waren stolz darauf, und manchmal sogar unbefangen.

Ich mußte beides annehmen: den Schrecken über das, was aus mir geworden wäre, wenn es jenen Mai nicht gegeben hätte, und die Notwendigkeit jener absoluten Niederlage, die dem Morden ein Ende setzte.

Ich habe Sachsenhausen besucht, war in Salaspils, in Ravensbrück und in Buchenwald und habe mich davor gedrückt, mit Peter Edel und seiner Frau nach Auschwitz zu fahren. Diesen Wunsch haben wir beide ihm nicht erfüllt. Ich war mit dem Oktoberklub auch in einem ehemaligen Lager nahe bei Hamburg, wo die Schrecknisse scheinbar nicht stattgefunden haben. Es muß eine Naturkatastrophe gewesen sein. Der Rasen der Versöhnung deckt alles mit vielfältigem Grün und schöner Buntheit.

Für Waffen gibt’s heut keinen Sieg.

Dieser wunderbare Frühling schmeckt so bitter, weil wir die furchteinflößenden Versuche erkennen, den nächsten Schritt der einseitigen Weltbeherrschung zu gehen, was immer es kostet.

Es ist kein Alptraum, es ist die nüchterne Wahrheit.

Sie sind wieder und immer noch unterwegs, mit Strategie und Taktik, im verdeckten oder offenen Kampf um alles, was unter der Erde noch darauf wartet, geschöpft, hochgeholt, als Reichtum beschlagnahmt zu werden. Es geht um Zugänge, Transportwege, um Sicherung von oben und unten, um die Fortsetzung aller Kriege der Welt, von denen kein einziger jemals Frieden gesät hat. In einem Lied singt Dirk Michaelis: „Am Ende der Schlacht sanken sie todmüde nieder. Zum Hassen zu schwach waren Besiegte und Sieger …“

So stand Lanzelot, auf sein Schwert gestützt, nach dem Sieg über den Drachen vor uns – ergraut und unendlich müde. „Sieg“ hieß da nur, daß die nötige Arbeit getan war. Es gab keinen Grund, zu feiern.

Womit haben wir es in diesem Frühling zu tun? Mit einem Potential aus mißbrauchten politischen und strategischen „richtigen Zeitpunkten“.

Das Bitterste ist, für einen langen Augenblick wie gelähmt zu sein, und dem Gedanken zu erliegen, daß wir nichts tun können dagegen, wie geübt sich Deutschland an jedem Brennpunkt zu eigenem fragwürdigem Nutzen einmischt. Sehend, wie die Politiker schamlos mit denen paktieren, die das Volk, den dummen Lümmel, mit falschen Erwartungen füttern und es glauben machen, es trete tapfer an für ein besseres eigenes Leben.

In der Ukraine bin ich bisher nie gewesen. Der Tod von Polizisten entsetzt mich ebenso wie harter Zugriff. Man greift ja nicht die wahren Schuldigen.

Es gab olympische Spiele in Sotschi. Ich habe am Bildschirm gesehen, daß viele Menschen gelacht, geweint, triumphiert und gefeiert haben. Anderen ist es widerfahren, zu versagen, trotz bester Vorbereitung. Es war, wie es bei solchen Höhepunkten im Leben der Sportler immer ist, ein Fest unter Konkurrenten, auch unter bewährten und neuen Freunden. Aber ich habe noch nie eine so niederträchtige Kommentierung der Reporter gehört, wie die in deutscher Sprache. Dieses Lauern auf eine Panne, vielleicht ein Unglück, auf irgend etwas, das die düsteren Prophezeiungen rechtfertigt.

Was für ein Niveau! Was für ein Winter der Redekultur!

Ich sehne mich nach einem Frühling für meine politischen Einsichten und Hoffnungen. Ich klammere mich daran, daß wir nicht allein sind. Für einen historischen Augenblick hatte ich wieder diese düstere Ahnung, die Menschheit werde trotz aller gestiegenen Gefährlichkeit kriegerischer Unternehmungen wieder nichts tun, gar nichts, sie werde glotzen, und hinterher, Stammtisch oder Regierungspartei, alles besser wissen und erklären. Die besten Schauspieler könnten uns erneut das verdammte Gefühl geben, wir hätten vorher halt etwas falsch verstanden. So, wie sie es uns bei dem Kundus-Befehlshaber Klein vermitteln wollten.

Zum ersten Festival des politischen Liedes, in den siebziger Jahren, wollte Jürgen Walter ein Lied singen, das Jewtuschenko geschrieben hat, und das uns sehr ans Herz ging.

Ich hätte es anmaßend gefunden und wollte nicht, daß der Sänger in die Uniform eines Rotarmisten schlüpft. So habe ich für ihn den Text aus seiner Sicht geschrieben. Die unersetzbare Titelzeile habe ich übernommen. In dem Lied heißt es unter anderem:

Meinst du, die Russen wollen Krieg?
Ich frage dich, für welchen Sieg?
Den russischen Soldaten frag
er liegt dort, wo er sterbend lag.
Die Russen brauchen keinen Sieg!
Meinst du, die Russen wollen Krieg?

sie haben einen Krieg gehabt
viel tiefer, als ihr jemals grabt …

Ich war in Leningrad. Damals hieß die Stadt noch so. Ich bin mit einem ehemaligen freiwilligen Lastwagenfahrer zum Ladogasee gefahren und habe ihm dort zugehört.

Und wünsche mir einen überwältigenden Frühling. In den Köpfen, deinem, meinem, im Hirn von jedermann.

Wenn wir uns nicht wehren, wird sich nichts ändern. Ich werde meinen Geburtstag allen Enttäuschungen meiner Kindheit zum Trotz mit ein paar Gleichgesinnten begehen – und wir werden uns begeistern bei dem Gedanken, wieviel Zorn und wieviel Mut noch in uns steckt. Es ist ja schon tapfer, eine Meinung zu haben. Sie auch noch zu äußern, kommt in die Nähe einer Tat.

Was für ein schöner Frühling. Ich lebe, liebe noch, und gehe wieder an die Arbeit.