RotFuchs 212 – September 2015

Gisela Steineckert: Hand aufs Herz

Gisela Steineckert

Der Krieg hatte ein hübsches Gesicht. So erwartungsvoll sah ich meine Mutter nie vorher lächeln; mit einer Art Hoffnung, für die es wohl vorher keinen Grund gegeben hatte. Ich war acht Jahre alt, meine Mutter wies mich an, wie ich die eingeweichten Strümpfe waschen und hängen solle.

Sie selber müsse sofort zu Oma und Opa, weil heute in der Nacht wahrscheinlich der Krieg ausbricht. Und dabei lächelte sie, als würde eine zweite günstigere Hoch-Zeit für sie ausbrechen.

Es kam für sie gar nicht schlecht. Der versoffene Ehemann wurde für sechs Jahre eingezogen, sie bekam zum ersten Mal in ihrem Leben monatlich die gleiche Summe ausgezahlt, und als die ersten Bomben auf Berlin fielen, steckte sie drei ihrer Kinder am Schlesischen Bahnhof ohne nähere Erläuterung in ein Zugabteil.

Wo wir dann hinkamen, zeigte der Krieg ein anderes Gesicht. Die Natur verhielt sich zwar so, als verfüge sie noch immer über Jahreszeiten, über Himmel und Erde, aber es gab keine kundigen starken Männer mehr, nur die Frauen, die Kinder und neben den Kriegsgefangenen – richtigen Menschen, wirklich! und ganz anders als der Ostmark-Altnazi, unser Oberlehrer, sie uns nahebringen wollte, um uns von ihnen fernzuhalten. Nicht grüßen, keine Antwort geben, sie mit Schweigen strafen. Wofür?

Über diese Frage ist viel Leben gegangen, das ich so und nicht anders haben wollte. Es muß ja nicht stimmen, warum und wie alles begonnen hat. Aber seltsam ist doch, daß ich dieses glückliche Lächeln meiner Mutter bei der Mitteilung, der Krieg werde ausbrechen, nie vergessen habe.

Ich war erst siebzehn Jahre alt, und meine ersten Schwiegereltern waren gutmütige einfache Leute, lebten in ihrer engen Wohnung in ihrer kleinen Stadt, hatten ihre lebenslange Liebe, ihr immer gleiches Sonntagsessen, vorher geliebtes Karnickel, sie strebten nach „Schafskopf“ in der Freizeit und ehernen Regeln für den Rest der Menschheit.

Zufall, daß wir einmal am tödlich langweiligen Kaffeetisch über den Krieg sprachen. Diese beiden, zwei schlichte Menschen, hatten „alles verloren.“

Ich wußte bis dahin nicht, daß sie außer dem sichtbaren Zeug je etwas besessen hatten. Der kleingewachsene schmale Mann war Grobschmied bei der Eisenbahn, kriegsuntauglich, und er hat nicht viel verdient. Zu einer Urlaubsreise etwa hatte es nie gelangt, aber der Sohn durfte studieren. Nach dem Krieg, „wo sie alles verloren“ hatten. Was?! Was hatten sie verloren? Nun ja, sie hatten jeden Monat 25 Reichsmark eingezahlt. Nach dem Endsieg sollten sie einen Bauernhof in der Ukraine kriegen. Nein, sie hatten den Leuten nichts getan, sie kannten die ja gar nicht. Ich fragte, wo „die“ denn geblieben wären, wenn andere ihren kuhwarmen Stall und ihre Betten übernommen hätten.

Mit siebzehn fragt man weiter, auch wenn Schwiegermutter dann beleidigt weint und ihr Hermann „das nicht erträgt“. Sie hat niemandem was getan.

Was jene Zeit mit all ihren grauenvollen, lebenslangen Versehrtheiten für jeden vernunftbegabten Menschen, für jeden, der sich auf Moral beruft, wirklich zu bedeuten hatte, welch eine grauenvolle Vision sich da verbrecherisch austobte, welche Lehren die Menschheit daraus ziehen müßte, das wollte ich wissen. Es trieb mich auf einen Weg,weit weg von den ehemals Meinen.

Nur: Immer, wenn ich denke, wir seien jetzt ein historisches Stück weiter, und zwar in der richtigen Richtung, dann war es doch wieder Taktik und gehörte zur Strategie.

„Der Krieg hat’s geschafft. Jetzt is’ er um uns rum“ sagt ein Altmieter im Hausflur, wo man sich beim Sortieren der Werbung aus dem Briefkasten trifft.

Wir sehen uns an und nicken. Das haben wir auch früher gemacht und immer gewußt, was gerade damit gemeint war. Ehe ich gehe, sage ich aber noch: „Das wußten wir doch schon seit den Siebzigern.“

Ehe der Krieg beginnt, kannst du ihn sehn
du siehst den Krieg entstehn
wenn die Leute stiller in ihre Häuser gehen
Die Mütter greifen anders nach dem Kind
Ehe er beginnt, riechst du den Krieg im Wind.

„Die Mütterlichen“ greifen anders nach einem Kind, das Trost braucht. Das „Mütterliche“ hat sich langsam vom Geschlechtlichen getrennt. Es gibt mütterliche Männer wie Frauen.

Außer natürlich, die konfrontierte Person hat gerade Dringenderes zu tun, als sich mit der Angst eines weinenden Kindes zu befassen. „Ich kann doch deswegen nicht die Gesetze ändern“, sagt die derzeitige Kanzlerin der Deutschen.

Daß sie selber kein Kind hat, ist nicht wichtig. Man kann ihr einen Platz an einem Verhandlungstisch überlassen, und sie wird 19 Stunden lang gegen die Rechte eines anderen Landes auftreten, obwohl auch dieses tapfer widerstehende, aber der Erpressung unterliegende Land einmal unter den deutschen Eroberern gelitten hat. Darüber gab es in der DDR-Literatur zu lesen, ich erinnere mich an die Novelle von Franz Fühmann.

„Ehe der Krieg beginnt/ wird das Volk verarmt/ bis es die Feinde schlagen muß, als wärs der eignen Armut Schluß … / Wenn keins sich mehr des anderen erbarmt/ sich nur nach dem Sterben noch umarmt/ dann riechst du den Krieg im Wind/ ehe der Krieg beginnt.“

Damals, das war 1992. Und die letzte Zeilen hießen: „Und das Leben verdirbt / wenn nur eine Stadt wie Sarajevo stirbt.“

Allons, enfants de la Patrie? Wer mit wem?

Eine Zeitlang haben wir in der DDR zu glauben gewagt, uns und unseren Kindern bliebe jeder weitere Krieg erspart, denn es brauchte keines neuen Beweises, daß es für Waffen in der modernen Welt der Technik keinen Sieg mehr gibt. Aber es haben sich neue Namen für alte Konflikte, Gegnerschaften und alte Rechnungen gefunden. Wieder werden Berg und Meer, Himmel und Erde bemüht, um die Stärke gegeneinander auszuloten und aufzurüsten.

Die alte Frage: Cui bono? läßt sich aber immer noch, scheinbar altmodisch, beantworten. Und wenn eine Seite keinen Nutzen anstrebt, so fürchtet sie doch die Niederlage und den unendlichen Schaden. Also tun alle Seiten, als ob sie sich nur schützen.

Wir wissen, wie der Irakkrieg begründet wurde, wie der Zwist zwischen den Israelis und den Palästinensern am Leben gehalten wird; auch, von wem die nun so gefährlichen Gesinnungstäter, nicht glaubwürdiger als einst die Kreuzritter, so ausgestattet wurden, wie sie jetzt, seltsamerweise, nicht zu besiegen sind.

Es kann uns nicht gleichgültig sein, was Rußland widerfährt, wie die Verleumdung und Unterstellung zur Tarnung eigener Ansprüche als Weltherrschaft bemüht wird.

„Kind, ich wünsch dir einen Frieden / der noch deinen Kindern taugt / wo der Wald ein grün’ Versteck ist / und das Feld nicht ausgelaugt … Kind, ich wünsch dir einen Frieden / aber das Vergessen nicht / wünsch dir langen, tiefen Frieden / und ein menschliches Gesicht …“

In Weimar lebte vor Jahrhunderten ein sehr kluger Mensch. Er hat bis in sein Alter an einem Stück geschrieben, darin gibt es eine Vision. Im 2. Teil, 5. Akt:

„Eröffn’ ich Räume vielen Millionen / Nicht sicher zwar, doch tätig-frei zu wohnen.“

Frieden wie das eigne Leben

Soll der Mensch den Menschen nie mehr
nach der Schlacht betrauern
muß auf dieser Erde eben
Frieden wie das eigne Leben
kostbar sein und dauern

Daß die Bäume und die Leute
ganz normale Jahrzeit haben
daß sie üppig umgehn können
mit den schönen Gaben

Daß uns Felder, Wald und Wiesen
nicht an Giften sterben
grüne Wälder, satte Erde
wolln wir vererben

Städte, um darin zu wohnen
schöner, als mans kannte
ohne Angst soll Liebe aufblühn
und das ihr Verwandte

Unsre Arbeit reiht dies Land hier
zu den schönen Ländern
was uns noch nicht gut gediehn ist
laßt uns verändern

Aus G. Steineckert: Nun leb mit mir, Verlag Neues Leben, Berlin 1976