RotFuchs 213 – Oktober 2015

Gisela Steineckert: Hand aufs Herz

Gisela Steineckert

Verblöden wir? Oder ich? Nun doch? Na ja, ich nehm teil: kritisiere zwar reichlich, ziehe mich aber nicht in die Einsamkeit meiner großartigen Besonderheit zurück, sondern setze mich immer wieder neuen Beweisen der verbreiteten Oberflächlichkeit aus. Auch ich nehme hin, was ich derzeit nicht ändern kann. Genieße ohne Reue, was es früher oft nicht gab und was nun leicht erlangbar ist. Nicht für jeden, ich weiß es und denke nicht in jedem Augenblick daran. Ziehe ich mich gelegentlich zurück in meine innere Welt, dann auch, um anschließend weniger zu klagen und vorübergehend mehr zu ertragen. Was immer ich einzuwenden habe, ich bin nur Zuschauerin, und so konsumiere auch ich die Wiederkehr der grundlosen Heiterkeit, der erlogenen Wichtigkeiten in einer schlau ausgesuchten Kulisse, die mit dem wirklichen Leben nichts zu tun hat. Wir wissen ja, daß wir den Blick nur abwenden müßten, um das eigentlich nicht zu beschwichtigende Wissen über diese harte Welt vor Augen zu haben.

Ich habe nie geglaubt, daß nun alles gut oder wenigstens besser wird, nur weil in der Zeitung steht, daß „Fehler ihre Zeit brauchen“. Darüber kann man lachen, aber auch nicht lange.

Otto Köhler:
Die große Enteignung
Wie die Treuhand eine Volkswirtschaft liquidierte

Neulich habe ich, etwas mißtrauisch, in einer im Osten viel gelesenen Zeitschrift geblättert, in der Erwartung, neu zu finden, was der Chefredakteur wohl lange Zeit für wichtig hielt: den Lesern immer wieder zu belegen, was sie alles versäumt haben, während sie, vielleicht sogar relativ unschuldig, transusig ihr Leben im falschen System vertrödelten. Da fanden traurige Lebensläufe ihre Weltöffentlichkeit, über die ich anderes weiß. Soviel unverstandenes Künstlerdasein, das schrie doch nach Gutmachung, die aber nicht stattfand. Die Leute wollen nicht lesen, warum einer nicht an- oder drankommt, sie wollen sich erbauen, ermutigt werden – und sie glauben nicht jeden Schmäh.

Aber auch im Kopf des Chefredakteurs scheint es eine Art Wende gegeben zu haben: Im Osten ist es schön, erfahre ich nun neu, was ich weiß. Meine liebste Landschaft ist die Uckermark. Ja, sagt die Zeitschrift, das sehen wir auch so, und zeigen euch wunderbare Fotos von den Seen, den Dörfern, auch der schwer beschreibbaren Stille, die sich der eigenen Seele mitteilt. Ich lese, wo man gut übernachten, wo gut essen kann, wie schön es bei der „Goldenen Henne“ wird, also Wohlbehagen, ein Augenblick von Frieden, und dann blättere ich um. Das hätte ich unterlassen sollen.

Ich konnte nicht ahnen, daß sich in einer diesmal doch idyllischen Zeitschrift eine Seele entlädt, die mir ein Problem bereitet, das ich bis zu diesem Augenblick nicht besänftigen kann:

Da will sich nämlich ein Mittäter erleichtern. Er bekam die Chance, einhundertsiebzigtausend DM im Jahr zu verdienen. Das gaben sie ihm, obwohl er „Ossi“ war und ist, und ich denke mir, gerade deswegen. Um zu belegen, daß nicht nur „Wessis“ die schmerzhaftesten Privatisierungen durchgesetzt haben.

Als Mitarbeiter der „Treuhand“ gehörte er mit diesem Gehalt nicht zur Elite, die anderen, die aus dem Westen, verdienten dreihunderttausend DM im Jahr. Und er schreibt, er hat seine Aufgabe oft kaum ertragen können.

Wann? Wenn er ganze Belegschaften entlassen, sogar Hungerstreiks ignorieren mußte, um den engen Zeitrahmen für die Privatisierung oder Schließung einzuhalten.

Diese Zeit ist mir in mein Gehirn gebrannt, und in mein Herz.

Hatte ich was damit zu tun? Nein, eigentlich nicht. Na ja, eigentlich doch.

Kurz vor dem Ende der DDR hatten die Frauen mir den Literaturpreis des DFD gegeben. Deswegen war ich in den wirren Tagen im Sommer 1990 mal dort aufgetaucht, um zu sehen, wie es geht. Es ging nicht gut, und so hatte ich zugestimmt, als mir das Amt der Vorsitzenden angetragen wurde. Die sogenannte Treuhand wollte von diesem Verein fünf bis sieben Millionen erstattet haben. Wofür, das wußten wir nicht. Sie hätten auch ein Luftschloß verlangen können. Das hatten wir auch nicht. Wie schäbig sich das alles vollzog!

Der Verein war eine Haushaltseinrichtung, das bedeutete, immer am Ende des Jahres abzurechnen und auf Null gestellt zu werden.

Als es die DDR nicht mehr gab, mußten sich die Frauen viel einfallen lassen, um in den Bezirken, nun Ländern, zu überleben. Das haben sie getan, aber zwei Millionen DM für die Treuhand, das war der schwerste Brocken. Was der Richter vor dem westlichen Gericht verfügt hatte, wurde abgezahlt. Was aber hätte statt dessen alles sein können …

Die Erinnerung wiegt schwer. Obwohl ich mich ein Leben lang bemühe, zu verstehen, daß Menschen etwas tun, wovon sie glauben, daß es sie für den Moment rettet. Manchmal nehmen sie sogar wissentlich in Kauf, daß es ihnen auf der Seele liegen bleiben wird, ehe sie zugeben, daß es ein Fehler war.

Es wäre auch ohne diesen männlichen Handlanger alles genauso gekommen.

Nach fünfundzwanzig Jahren der neuen Gesellschaft erfahre ich aus einer anderen Zeitung, daß es für das Porzellan in Meißen ganz nach Insolvenz aussieht. Das hätte ich nie für möglich gehalten, aber ich erinnere mich, daß es einen „neuen“ Chef gab, der das Sortiment umstellte, veränderte, Tradition gegen Kinkerlitzchen austauschte. Meißner Porzellan war immer eine sichere Bank, es gehörte zu unseren Juwelen, aber das ist vorbei, und es tut mir weh. Ich durfte einmal bei einer Reportage neben einer jungen Malerin sitzen, die nur Zwiebelmuster auf das Porzellan malte. Ich bewunderte ihre Fähigkeit, so scheinbar ganz gleich und dabei für jeden Teller eine eigene Individualität zu malen.

Noch ein Wort zu dem späten Teilbekenner: Die Ehrlichkeit lugt zwischen den Zeilen hervor, ohne daß er sie ausspricht: Ich habe an einem Verbrechen gegen eine Gesellschaft teilgenommen, in der ich vorher gelebt habe, mein Auskommen hatte, die ich nicht abschaffen wollte, aber dann stand ich da …

Ja, sicher. So ist es vielen ergangen, als sie ihre Arbeit verloren und ihr ehrlich erworbenes fachliches Wissen nicht mehr anwenden konnten. Existenzangst ist ein großer Drängler wider den Anstand. Es ging eine gehörige Weile offen brutal zu, auf einzelne Menschen kam es nicht an.

Wäre er unter die Räder gekommen? Das wissen wir nicht. Hätte er, so wie die meisten jüngeren Menschen ganzer Landstriche bei uns, fernhin sein Auskommen suchen müssen? Oder hat er begierig zugegriffen, weil er vorher nie so viel Geld hatte, es ihm schier nachgetragen wurde – und für Bedenken, vielleicht Reue, war immer noch Zeit. Er spricht spät, denn vieles haben wir ja selber gesehen, und das meiste an Information liegt inzwischen schon als Buch vor.

Es ist zu viel, was sich das Gedächtnis merken will, und so hatte ich auch das fast vergessen: In einem Band Briefe, den ich Anfang der 90er Jahre veröffentlichte, lese ich, daß ich für die Adressatin keine Zeit mehr habe, ich muß zum Treffpunkt vor der Treuhand: „Wir wollen denen alte Hemden vor die Füße werfen, da, nehmt unser letztes Hemd …“

Es gibt Länder, in denen wären wir für solches Tun ausgepeitscht worden.

Ein Freund von uns ist Arzt, häufig in Saudi-Arabien. Dort darf er eine Frau nur in Gegenwart ihres Mannes und voll bekleidet untersuchen. Es geht den Leuten nicht schlecht, sagt er. Sobald sich etwas Unmut im Volk regt, erhöht der König die Sozialleistungen. Wohl versorgt und als Frau aller Rechte beraubt, das geht, geht bis hierher – aber dann? Könnte es sein, daß sie eines Tages ihre Lage nicht mehr ertragen, und daß sie aufbrechen? Wohin? Zu uns.

Ich möchte das gern, sie sehen, helfen, aber sie kämen vorerst noch in ein herzkaltes Land, das uns gemeinsam überfordern würde. Wann wir das Zurückgeworfene nach vorn tragen können, das steht noch in den Sternen. Ich will, du willst, also! Gehen wir es wieder und wieder an. Gruß nach vorn!