RotFuchs 215 – Dezember 2015

Gisela Steineckert: Hand aufs Herz

Gisela Steineckert

Das Jahr, ach das Jahr. Es will eingeh’n in den ewigen Kalender, will gehen, fortgehn, sich bewegen, und so bewegt es uns; wie jeder Abschied. War es bei nüchterner Betrachtung nicht doch ein ganz normales Jahr, mit üblichen Erleuchtungen und Ernüchterung, mit den Folgen mangelnder Voraussicht, und dem Ende unfruchtbarer Befürchtungen? Erinnere dich, dann kannst du die Bilder weitaus wichtigerer Jahre aus der Oberfläche deines Gedächtnisses abrufen, oder aus den Tiefen und Untiefen, die sich erst allmählich beleben.

Nein, es war kein ganz übliches Jahr. Aber Kriege hat es doch immer gegeben? Das ist wahr, aber neben schmählicher Sehnsucht danach gab es auch schüchtern wachsendes Vertrauen darauf, daß die Menschen in Europa aus zwei Weltkriegen ihre Lehre empfangen haben und keinen Fitzel Glauben daran hätten, daß Krieg zu irgend etwas taugt.

Ich möchte das vergangene Jahr auch gern beschränken auf jene Augenblicke, in denen ich innere Ruhe gefunden habe, mich also auf meine Zuversicht besinnen konnte.

Das ging nicht ohne Mühe. Aber wer das sagen kann, sagen muß, der hat zu tun.

Arbeitet, bewegt was, hat was vor, kann sich einbringen, darf sich anstrengen. Er darf anbieten, was er weiß, oder endlich begriffen hat, er darf klagen über die zu knappe Zeit für sich selber, dadurch Mangel an Zuwendung für Pflanzen, Nachrichten, für die Lieben. Welch ein von anderen so schmerzlich vermißtes Glück.

Spielwaren, hergestellt von den Beschäftigten des VEB Sonni, waren nicht nur in der DDR sehr beliebt, sondern wurden aus Sonneberg auch
in alle Welt exportiert.

Das wissen wir jetzt, und es gab auch Zeiten, in denen wir das nicht wissen konnten. Denn da gehörte Mangel an Freizeit zum ganz normalen Leben.

Fast jeder von uns hatte neben der überfordernden beruflichen Arbeit alle Hände voll zu tun. Mit Besorgungen und Versorgung der Familie, trotz gewohnter unzureichender Verteilung mit Quark, Strumpfhosen für Kinder, oder neben reichlichem Schweine­fleisch doch mal was Mageres. Nein, Kalbsleber gab’s nicht, damit kann man lange leben, aber neben Rinderrouladen eben auch keine Sicherheitsnadeln.

Ja, aber das war doch nicht unser Jahr, damals, zu Hause, in unserer ständig benörgelten Heimat, die heute nicht mit Zuckerguß bedeckt werden soll, nur weil sie im Vergleich eben doch ganz gut wegkommt. Besser, oder sogar gut, weil es keine Arbeitslosen, keine Bettler, keine Autodiebe gab – wo hätten sie das Auto auch lassen sollen? Ich erwähne das nur, weil ich solchen Augenblick erlebt habe, als wir die Straße entlang suchten, für möglich hielten, daß wir nur zu blöd sind, das liebe Auto zu finden. Es war aber nicht mehr da, war gestohlen, und der Polizist sagte: „Gehn Sie mal immer die Straßen lang, und wenn Sie das Auto sehn, dann rufen Sie uns an.“ Ja, wir haben auch gelacht, aber es war eine Niederlage, ein beschämender Moment, in dem es uns an Größe fehlte, uns über den Dieb zu freuen, daß er ein so gepflegtes Exemplar erwählt hatte. Nicht ein geliebtes, das behaupte ich nicht.

Aber das war doch nicht unser Jahr, damals, uns über das Fehlen von jüngerem Wirsingkohl, oder Spitzkohl oder Rosenkohl zu erregen.

Meine Kalender aus der DDR-Zeit werden von mir gehütet. Sie enthalten Einträge, aus denen bewegende Bilder aufsteigen. Ach, 1969, da habe ich jede Woche mit den Häftlingen in Rummelsburg an einem Kulturprogramm gearbeitet, weil Perry Friedman und unser Genosse Baron keine Lust mehr hatten, und ach, da war ich eine Woche bei den Singezähnen in Suhl, danach bei den Spielzeugmachern. Die hatten in Sonneberg ein Ensemble von über hundert Leuten, einzigartig gefördert, mich aber gerufen, weil der Generaldirektor seine Produktionszahlen ins Programm drücken wollte … Ach, das ist alles auch wahr, aber ich behaupte immer noch, daß es historische Wahrheiten gab, an denen wir damals nicht rüttelten, weil kein Grund dazu bestand.

„Nie wieder!“

Da wußte bei uns wohl jeder, was damit gemeint war. Und wollte er es mal vergessen, wurde er nicht nur von oben daran erinnert.

Meinst du, die Russen wollen Krieg? Ich habe nicht gedacht, daß sich diese überflüs­sige Frage noch einmal in unser Leben drängen würde. Wer je in Rußland war, der kennt die Antwort. Aber es ist der anderen Seite gelungen, diese Frage noch einmal zu stellen.

Das Jahr will gehn und legt uns seine Lieder in den Mund. Die erste Kugel will bald an den Weihnachtsbaum, ohne den ist es kein Weihnachten. Aber wenn uns das Jahr zur Bilanz zwingt, dann enden die Scherze, und alles kehrt wieder: dieses eine Foto, die empörende Äußerung, der Vorgang oder Vorfall im eigenen Land, wo die Bürokratie sich mit der Ankunftskultur in die Haare kriegte, die Einsicht kurzzeitig flackerte, ehe sich die gewohnten Stimmen wieder über einen zu herzlichen Satz hermachten, der ja vielleicht noch nicht einmal herzlich gemeint war, sondern im Auftrag künftiger Gewinnerzieler gesagt wurde und eben deshalb auch nicht beschämt zurückge­nommen werden konnte.

Das Jahr erzwang sich Tränen. Aus Scham, das konnten wir nicht ändern. Auch wir haben in unsrer Meinung über das Nächstliegende, das Nötige, das Vernünftigste geschwankt, oder von einem Extrem zum anderen vorgeschlagen, wir redeten, wandten ein, und wenn wir uns am Abend vor dem Bildschirm wieder hilflos fühlten, dann suchte sich die Traurigkeit ebenso wie die Wut einen Schuldigen, das half kurzzeitig.

Was Ungarn anbelangt, bleibt es für mich dabei: Nach Horthy sollte man andere Ideen haben, als den historischen, schrecklichen Irrtum mit all seinen dem Wesen gemäßen Verbrechen noch einmal aufzuwärmen. Ja, diese frühere Schande teilt Deutschland mit Ungarn. Jetzt hörte man einen sagen, die Ungarn wollten sich nicht mit anderen Völkern (oder Rassen?) vermischen. Sehr viel Blöderes an Sprüchen hatte das Jahr denn doch nicht zu hören gekriegt.

Das Jahr will gehn, ja geh, aber gib uns noch ein Fest, auf dem es sich Abschied nehmen läßt.

Wo find ich Trost, da ich Klügere ohne einen brauchbaren Vorschlag sehe und auch der Bundespräsident seine Gedanken noch verschwurbelter zurückläßt, in Eile, die ihm zusetzt, wie man hört, und das zählt zu den angenehmeren Nachrichten.

„Rem tene, verba sequentur!“ Das heißt: „Halte die Sache fest, die Worte werden folgen.“

Mein großes Kind,wir haben zusammengehalten und uns bei Erschütterungen gegenseitig das Taschentuch gereicht. Auch bei der Freude, wenn sie als Folge unserer Arbeit vor uns erstand, als Lachen, als Aufleuchten in fremden Augen, als Applaus, oder als vertrauliche Auskunft, die wir uns verdient haben durch Ernstnehmen der anderen, durch eigene Zuwendung.

Bis zur Hälfte seiner Zeit hat mich das Jahr einer strengen Prüfung unterzogen. Der Halm schien einzuknicken. Es gibt mich wieder, es gibt mich noch. Ich will noch nicht gehen, das überlasse ich dem Jahr.

Mein langes Leben hat mich gelehrt, daß der Mensch zu Einsicht fähig ist. Er kann sich, einmal im Jahr, an Gänsebraten überfressen, und trotzdem ein vernünftiger Mensch sein.

Bitte gebt kein Ritual zum Jahresende auf, laßt es von mir aus auch krachen!

Ich ziehe die Vorhänge zu und grüße alle, die ich je geliebt habe, brauchte und wieder brauchen werde. Bis zum nächsten Jahr also.