RotFuchs 222 – Juli 2016

Gisela Steineckert: Hand aufs Herz

Gisela Steineckert

Wir sind nicht die großartige Person, die im Mittelpunkt weltweiter Veränderungen in aller Ruhe beobachten und werten soll. Wir haben uns, weil Menschen so sind, oft viel zu wichtig genommen. Es fällt schwer, zu lernen, daß unsere Bemühungen gelegentlich und immer wieder unterliegen, beiseite geschoben werden, verlacht. Oder als zwar nötig, aber gerade nicht möglich, ins Ferne geschoben werden. Auch dorthin, wo unsere Bemühung nie gewesen ist.

Als Frauen denken wir über unsere Männer nach, über die Schwiegersöhne und -töchter, über unsere Kinder und Nachbarn, unseren Arzt, den Garten, die Welt, das Klima – wir machen uns Gedanken über die Abtragung des Kredits, da grübeln Mann und Frau, auch über die Scheidungen anderer Leute, und wie sich doch alles im Leben so ändert. Sogar vom Grund her, sogar in seinem Wesen, in seinem Wert.

L'INTERNATIONALE

Es macht uns Sorgen, daß es für die Nachkommen keine gesicherte berufliche Zukunft gibt, daß sie, ausgestattet mit Arbeitsverträgen, die kaum über ein Jahr reichen, nie wirklich für sich selbst sorgen können. Ja, und daß der Krieg so nahe stattfindet, und daß alles viel Geld kostet.

Dabei haben wir in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten über vieles neu denken gelernt. Wir haben uns auch Aufgaben gestellt, die wir früher für erledigt hielten. Andere Gegenden und andere Genüsse haben auch an feste Weltbilder gerührt, und das nicht zu unserem Schaden.

Auch wir haben uns verändert. Darüber nachzudenken, ist oft unbequem.

Ich habe in den letzten sechsundzwanzig Jahren meine Arbeit gemacht, meine Familie zusammengehalten, war mit nahen Freunden immer in die nächste Idee verstrickt und habe mich von der öffentlichen Meinung nicht unterkriegen lassen.

Es hat sich gelohnt: Viele neue Lieder sind entstanden, solche, die früher gefehlt haben. Weil die Zeiten anders waren, unsere Sorgen hatten andere Gestalt, unsere Hoffnung schien nicht so drängend nach Verwirklichung zu verlangen.

Das Besondere an meiner Arbeit der letzten Jahre wurde möglich, weil die Inhalte nicht wirklich vom Grund her neu waren. Manches konnte entstehen, weil Sänger und Komponisten, Büchermacher und Lesende mit Erwartungen gedrängt haben. Drängen muß es, um an die Oberfläche zu kommen, ehe es ins Weite gehen kann, um dort Verbündete zu finden. Andere, die aus dem Teil ein Ganzes machen können.

Mitten in die wichtig genommene Arbeit aber blitzt – das Wort ist richtig! – immer wieder die Nachricht des Tages, verwirrend und beunruhigend. So, daß das eben Begonnene oft auf seinen Platz weiter hinten verwiesen wird. Oder soll es nicht in die Arbeit einfließen, wenn zu befürchten steht, daß unser liebes Nachbarland Österreich fast unvorstellbar nach rechts rückt? Näher an Ungarn heran? Fast in Rufweite zu Polen? Und neben den großen Staatsmann, der die Leute einsperren läßt, wenn sie nur den Kopf schütteln? Ja, es ist alles leicht durchschaubar und sehr bedrängend. Mit zwei leeren Händen ist da nichts aufzuhalten, und sage mir doch keiner, daß wir Alten halt immer übermäßig besorgt sind. Wo sich doch zeigt, daß selbst Guantánamo auf die Dauer nicht in Betrieb bleiben kann. Wir träumen, ja. Ich frage den Mann: Wovon träumst Du? Er sagt: Vom Frieden. Ich sage: Von welchem? Es ist weltweit keiner zu sehen. Er sagt: Ich träume vom Frieden, den ich habe. Ich sage: Du hast deinen Frieden, und du träumst ihn? Er sagt: Ich habe nicht meinen Frieden, mich treibt es genug um. Aber ich träume vom Möglichen: daß ich meinen Kampf mit menschlichen Mitteln fortsetzen kann, den Kampf gegen die Unterdrückung von Minderheiten, Schwächeren, Hautfarben, gegen die Ausbeutung von Arbeitenden, die Ausbeutung der Meere und der Erde. Ich möchte kämpfen mit Worten, mit Beweisen, mit meiner Arbeit. Mit Hilfe der Zeit, die ich nutzen will. Ich sage: Du hast mich, das Weib, unterdrückt und ausgebeutet. Über Tausende von Jahren hin. Ich bin dabei, mich zu befreien. Das ist mein Kampf. Der Mann sagt: Ich bin klüger geworden. Wende dich nicht gegen mich. Ich brauche deine Kraft, deinen Verstand. Zähl meine Untaten nicht auf, die Liste ist zu lang. Aber was wir wissen, werden wir auch können. Wenn wir uns nicht abwenden von den Erkenntnissen und uns einigen über alles, was nötig ist. Glaubst du, ich, der Mann, hätte dich so lange unterdrücken können ohne deine Hilfe, ohne die gräßliche Einsicht in die Unterwerfung? Die Schwäche war für manche unter euch auch Hilfe oder Sofakissen, war die Ausrede vor sich selber. Willst du aufrechnen? Da haben die anderen wieder Zeit gewonnen, den Wahnsinn zu pflegen und alle Mittel gegen Veränderung und Befreiung einzusetzen. Ich habe kein Koppelschloß, keinen Helm, weder Gewehr noch Schwert. Ich sage: Dann sei mir willkommen!

Schöner Traum.

Was habe ich geschrieben? „Ich werde niemals schmeißen / mag auch der Vorhang reißen / aus Eisen oder Tüll / mit ein paar andern Narren / trotz Haß und trotz Gebrüll.“

Ziemlich große Worte für das, was uns im Alltag abverlangt wird. Da fehlt uns oft die Kraft, die Augen zu heben und das Erreichte in seinen Dimensionen zu würdigen. Manchmal sind wir so vertieft in die Abwehr von Gefährdungen, in die Monotonie, die sich einschleichen will. Auch die neue Technik „hilft“, uns einander zu entfremden. Das muß sie nicht. Da können wir Grenzen setzen. Aber dazu bedarf es der Reife, es zu erkennen.

Ich habe eben zwei Erlebnisse gehabt, die mich aufgerüttelt haben aus der alltäglichen Mühe. Aus dem oft nur scheinbar vergeblichen Angehen gegen Einflüsse, die uns vermittelt werden als Erkenntnisse über den Stand der höchsten Dinge.

Ich hatte einen halbrunden Geburtstag, mitten im Alltag, mitten in der Arbeit, aus der ich eigentlich nicht einmal hochblicken wollte. Für diesen mir eher lästigen Tag hatte ich gar nichts geleistet, außer, daß es mich noch gibt. Ich hatte keine Vorfreude und war nicht gewappnet auf die Herzlichkeit, mit der ich einzigartig verwöhnt wurde. Es schien ja so, als ob eine Art öffentlicher Vergebung für früher stattzufinden hätte. Auch die Zeitungen erwähnten nur am Rande, daß ich bei der Entgegennahme des Nationalpreises Erich Honecker meine Hand gegeben habe. Das nur nebenbei. Aber das andere, als ob alle Blumen, alle Zweige, alle Riesen und alle Zwerge zu meiner Ehre erwacht wären. Das wird mir unvergeßlich sein. Mich dafür zu bedanken, wird es Zeit brauchen.

Klaus Steiniger hatte es sich gewünscht, aber war es nicht ein kühner Wunsch? Er wollte, daß wir die „Internationale“ hören; wir Trauergäste sollten erinnert werden an das international Verbindende, das ihm so wichtig war. Aber wenn er das doch hätte erleben können: Als die ersten Töne erklangen, als die ersten Worte herübergereicht wurden, standen wir alle in der Trauerhalle auf. Wir nahmen sein hinterlassenes Angebot, seine Herausforderung an. Wahrscheinlich ist dieser Raum noch nie so einstimmig von einem Lied erfüllt worden. Und mir wurde es schwer, den vertrauten Text mitzusingen, weil es mich in die Seele getroffen hat. Was? Daß die Jungen neben uns diesen Text kannten und ihn nicht minder stark und laut sangen: Wacht auf, Verdammte dieser Erde! Ja, wir wissen, daß der Text an einigen Stellen nur eine Illusion ist. Wir können uns nicht zu einem letzten Kampf erheben, weil die Welt so nicht ist. Wir haben nicht die ganze Kraft, die nötig wäre. Es scheint, die anderen haben sie gerade, jedenfalls in diesem historischen Moment. Aber es war so. Die Jungen und die Alten haben sich für ein Lied auf einen alten Text geeinigt, der uns zu Würde und Anstand verpflichtet. Unvergeßlich.