RotFuchs 227 – Dezember 2016

Gisela Steineckert: Hand aufs Herz

Gisela Steineckert

Das Jahr will gehn. Schon? Aber gib uns vorher noch ein Fest, auf dem es sich Abschied nehmen läßt. Zu früh, immer geschieht alles im Leben, was wirklich wichtig ist, zu früh.

Kleine Urenkelin, Liebe, laß Dir ruhig Zeit. Dein wichtigster Termin wäre Anfang Januar, das geht ja noch. Aber wann immer Du erscheinst, mein Jubel ist Dir sicher. Ein leiser Wunsch nur, daß Du kein Weihnachtskind sein sollst, denn dann fallen Dir ja Weihnacht und Geburtstag als Fest zusammen, und das Jahr wird ohne große Tage vielleicht ungerecht lang. Aber: „Auf deinem kleinen Throne/wächst unsre Verstärkung – die nächste Amazone!!!“ Du sollst geliebt sein, und Du kannst für gar nix. Für keinen Lebensfehler, kein falsch Vorausgedachtes oder vergeblich Gelebtes. Nimm Platz in all den zauberhaften Sächelchen, an die nicht zu denken war, als Deine Großmutter geboren wurde, meine Tochter, deren Windeln ich vor Übereifer und schmerzlichem Mangel mit bunten Fäden bestickte. Sah schön aus, bis nach der ersten Wäsche. Wenn ich sehe, welche Ausstattung Dich erwartet, könnte ich für einen Augenblick alles schön finden, die ganze Welt.

Aber so war das Jahr nicht. Es gab auch friedliche, bewegende Momente, gute Nachrichten aus der Wissenschaft und kluge Vorschläge durch einzelne Persönlichkeiten. Aber die Schläge auf das Herz und die Nerven wurden als unerträglich empfunden und sind es gewesen. Weltpolitik? Es bleibt vorrangig beim Bedienen von Interessen.

Das Jahr will gehn? Da braucht es große Momente: Trauer um die Verbündeten, die uns bei der Arbeit fehlen werden. Wir sind verpflichtet, ihren Gedanken und Nachlässen Respekt zu erweisen. Nicht ablegen, sondern aufheben.

Ich fühlte mich noch einmal unter Druck gesetzt, unschuldige Opfer „einzuordnen“, weil da eine Gemeinschaft von Mördern aus dem Ruder gelaufen ist und nun von ihren vorherigen Erfindern besiegt werden muß. Wer gab dieser „Clique“ Raum, Waffen und Quellen für ihren Reichtum? Das wissen wir. Aber wir sind überfordert, auch wir. Unser Verstehen, unsere Einsicht und unsere Lernfähigkeit sind überfordert und versagen vor der Frage, was wir denn nun angesichts der entstandenen Situation tun könnten. Die Bilder, die vielen unerträglichen Bilder von Flüchtenden, die niemand haben will. Es geschieht der Menschheit nun trotz und mit Hilfe weitgereifter Technik, daß eine große weltumspannende Unordnung entstehen konnte. Es gibt das grausige Bild eines Trump und dagegen die entwaffnenden Beispiele von einzelnen Helden des Alltags, die ein Gleichnis schaffen können – aber selbst eine Vielzahl von ihnen wäre machtlos gegen die große Unordnung. Läuft das auf einen Ruf nach Lanzelot hinaus oder auf einen neuen Messias, der uns eine nie gekannte Religion aufdrückt, gegen die wir dann wieder angehen müssen?

Ach, Weihnachten bringt uns neben vielgeliebtem Schnickschnack auch neue Bücher unter den Weihnachtsbaum, vielleicht finden wir in ihnen eine Lösung, wenigstens einen Ansatz. Es sind schließlich meist berühmte Leute, die sie verfaßt haben. Berühmte Leute sind berühmt, weil sie ihre Arbeit gemacht haben! Dieser Gedanke ist gültig, siehe doch Shakespeare oder Renoir, Mozart oder Pavarotti oder Clown Grock. Und Stephen Hawking.

In unseren hastigen Zeiten scheint es, als wäre sie kaum noch erlangbar, die großartige Lebensleistung. Solche, derentwegen Menschen Lasten auf sich gehäuft oder abgeworfen haben, ihr ängstliches Selbst überwunden oder zu ihm hingefunden. Das, wofür sich alles gelohnt hat; der Stein auf dem Weg, die lange Einsamkeit bis zum entscheidenden Moment des Einfalls, die Furcht vor dem Urteil „der Welt“.

Das wahrscheinlich Beschwerlichste: nicht aufgeben, nach dem Rückschlag wieder rangehen, weitermachen, der Leichtigkeit durch die Arbeit näher kommen. Jener Leichtigkeit, ohne die kein Werk aufblühen kann, ohne das es nicht in die Verbreitung gelangt.

Was denn wäre unsere Aufgabe? Die wahre, die schwere und einzige Befriedung. Wir scheinen ständig vor die Wahl gestellt, unser Zutrauen oder sogar Vertrauen zu vergeben, zu verschenken oder mißtrauisch wieder an uns zu nehmen. Die Zeiten sind nicht so, wie sie als Moderne Zeiten vorausgesehen und in die Kunst gebracht wurden. Aber ähnlich, verdammt ähnlich schon. Uns wächst kein Sitzfleisch. Alles ist ständig von Lärm begleitet, umtost, untermalt, alles soll möglichst bald fertig sein und zugleich verändert werden, auf den Kopf gestellt oder umjubelt. Das gilt fast soviel, wie verrissen zu werden, worauf die Retter den zu kurz oder zu früh Gekommenen, Unverstandenen in Mode bringen. Oder sie helfen, sein Werk unter den Tisch zu kehren. Manche der Förderer begreifen ihn so schnell, wie sie ihn nachher vergessen.

Eben habe ich mir einen Band „Neue Liebesgedichte“ gegönnt. Was sprang mich an? Was weckte Gefühle? Und gab es da Wärme und Duft, Leid und Angst, Seligkeit, Sinnlichkeit? All das haben mich die Dichter gelehrt zu verlangen und zu erwarten. „Geschwind, zu Pferde!“ und „Und doch, welch Glück, geliebt zu werden/Und lieben, Götter, welch ein Glück!“ Das hat Goethe schon mit 26 Jahren geschrieben. Und gewußt. – In den „Neuen Liebesgedichten“ habe ich keinen Wimpernschlag davon entdeckt, aber ich will, daß die Liebe sterbensängstlich und die Welt auf den Kopf zu stellen imstande ist. So haben sie doch geliebt, ob Frida Kahlo oder Else Lasker-Schüler, Louise Labé, und hat nicht die junge Sarah Kirsch uns bezaubert? Ihr Gang in die Kaufhalle, um dort vergeblich Eier für das Abendbrot des Geliebten zu holen: ein Gedicht, das ihrer Sprache die Bezeichnung „Sarah-Sound“ einbrachte. Es gab viele „Poesiealben“ in der DDR, in ihnen war alles über die Liebe zu finden. Ja, „Es war, als hätt’ der Himmel/die Erde still geküßt …“ oder „Und auch den Kuß/ich hätt ihn längst vergessen …“ Selbstvergessenheit gehört in die Liebe. Ihren Atem zu beschreiben scheint so leicht, so leicht. Aber sie siedelt neben dem anspruchsvollen Teil, dem Schmerz.

„Wart auf mich, ich komm zurück, aber warte sehr …“ Das hat Konstantin Simonow als Soldat geschrieben im schrecklichen Jahr 41. Ein unsterbliches Liebesgedicht!

Weihnachten werde ich wieder einmal Liebesgedichte lesen, um zu merken, ob ich noch lebe.

Der kühnere Gedanke wäre, wieder einmal eins zu schreiben. Ich erinnere mich daran, mit welcher Unverschämtheit ich mich vor ach so vielen Jahren eines Bleistifts bemächtigte, mir ein Stück Papier griff – oder war es ein Zeitungsrand? –,  und ich schrieb drauflos. „Ick möcht mal mitn Finga inn Himmel pieken …“ Ich hatte gar keine Ahnung, viel zu wenig Bildung, aber eins hatte ich als Vorbereitung auf lange Jahre stiller Arbeit immerhin schon geleistet: Ich hatte nicht nur jeden erlangbaren Band Gedichte, ob bei Leuten oder in der Volksbibliothek, gelesen, sondern – mit der Hand abgeschrieben, still für mich und versunken, während um mich her Kuchen aufgetafelt wurde oder ganz normaler Alltag mit all seinen Geräuschen ablief. Und ich weiß heute noch, daß ich manchmal mitten in welchem Tun auch immer innehielt, weil ich einen Satz aus ganz normalem alltäglichem Zusammenhang wie ein Pochen an mein Gehirn oder an mein Herz empfand. Es hob sich so ein Wort, ein Satz aus allem Alltäglichen heraus und wollte in jene Kiste gepackt werden, die ich dann ein Leben lang groß genug fand, ihr immer noch etwas anzuvertrauen. Aus der Tiefe des langen Erinnerns erreicht mich der traurige Satz, den Tucholsky hinterließ: „Er hat nur einmal wirklich geliebt …“

Liebesgedichte sollten atmen und sehnsüchtig machen. Ja, das sollten sie. Aber in den „Neuen“ habe ich dergleichen nicht gefunden.  

Schöne Weihnachten!

Ick möcht mal mitn Finga inn Himmel pieken,
ob det wohl jeht?
Ick kann vonne Wiese nach oben kieken
und sehn, wie ne Wolke zerjeht.
Denn is doch det Blaue janz nah –
aba ick war noch nie da.

Mir hat schon mal eena een Kuß jejehm,
det tat mir jut.
Ick möcht mal een Liebsten fürt janze Lebn,
mit den hätt ick janz schön viel Mut.
Und ick war schon der Liebe janz nah –
aba ick war noch nie da.