RotFuchs 235 – August 2017

Gisela Steineckert: Hand aufs Herz

Gisela Steineckert

Es gibt Tragödien, die kann eine Familie überstehen, obwohl sie erst scheinbar zer­bricht. Aber nach und nach rappelt sie sich für ein zweites Leben auf. Mir ging es so. Aber ich war nie allein damit.

Geholfen hat mir auch, daß ich inzwischen – mehr als früher – Anteil haben darf am Leben anderer Menschen, anderer Familien. Ob mit der Hand geschrieben oder durch die neue Technik zugestellt, gelangen sie zu mir: Berichte von glücklichem Überleben oder nie gekannter Übereinstimmung der Generationen. Aber eben auch die Tragö­dien.

Es gibt Veränderungen im Alltag, die man nie plante, vielleicht früher sogar entrüstet abgelehnt hätte. Sie schleichen sich ein, für sie ist niemand verantwortlich, sie sind niemandes „Schuld“. Nur: Etwas ist den Preis nicht wert, nicht den Platz, den es ein­nimmt.

Auch das Nötige wird im alltäglichen Leben zunehmend belastet durch Hast, durch Unruhe, durch ständige Vorläufigkeiten.

Haben die da oben, hat das Vorschreibende, Mächtige, immer Teil, auch an plötzlich Einschlagendem? Manches daran müssen wir dem modernen Leben zuschreiben, also der Technik, die uns bedient und verschlingt, dem überzüchteten Verkehr, um der Er­reichbarkeit auch der fernsten Erdpunkte willen. Wäre alles anders gekommen, wenn wir ein bißchen beschränkter leben und sein würden?

Du hast alles richtig gemacht!? Alles getan, unterlassen, vorgerichtet? Deine Patien­tenverfügung, zum Beispiel. Richtig! Das Fehlen wird sich sonst als überaus wichtig erweisen; sobald du und der Mensch deines Vertrauens kein ausgewiesenes, gestem­peltes Recht vorweisen können.

Sobald ihr euch vor Verfügungen schützen müßtet, die ihr nicht mittragen wollt.

Ich brauchte Wahrheiten und bekam sie in seltsamen Gewändern.

Die Wahrheit des Tages kann ein Fächer sein, der sich unvermutet entfaltet und alles wegwedelt, was vordem richtig war.

Ich habe abgeschüttelt, womit ich überschüttet werde. Es gibt neue Irrtümer über das Machbare. Ob erst einmal gehandelt werden muß, um dann langsam Reife zu entwi­ckeln, das kann sein. Oder sollten die Oberen uns einfach mal schenken, was bisher nirgendwo erkämpft wurde? Die feiern sich dafür, besonders vor Wahlen. Danach weniger. Man nennt das Entwicklung. Für beide Seiten. Und selbst der Kompromiß scheint manchmal wie ein Teilsieg, auch für beide Seiten. Was ich am Abend auf dem Bildschirm sehe und höre, hat eine schwer abzuweisende Richtigkeit. Welche? Die in der Zeitung steht? Gegen die ich meinen eigenen Widerspruch aufzurufen habe? Als Vorschlag, Einschränkung oder Bestätigung? Mich befremdet die scheinbare Richtig­keit des Unumkehrbaren. Aber was so global aussieht, ist oft die Bemühung einer einzelnen Stimme. Manchmal versuche ich die meine. Aber ich soll überschaubar sein, beeinflußbar, soll treuherzig zu Markte tragen, was ich nicht entscheiden kann, aber doch als Stimme scheinbar mitgestalten.

Meine Betroffenheit über die Vergänglichkeit des gewählten Programms kommt erst hinterher, wenn ein Versprechen der Wahrheit standhalten muß. Ich könnte mich rüh­men, nicht käuflich zu sein, nicht rumzukriegen, wie man so sagt. Geschenkt! Aber wen bestärke ich? Wir sind ja zu Hause nicht unter Feinden, es geht vordergründig nicht um Tod oder Leben, jedenfalls nicht um meins. Oder desjenigen, der die Macht besitzt, sie anstrebt. Wenn ich da nicht mitmache, kostet es die Übereinstimmung, die schöne, immer erhoffte, nie gesehene.

Es gibt einen Moment von tapferer Einsamkeit. Da weiß man, wie das Leben ist, und verfügt über alle Einwände, die einem gerade dann einfallen, wenn man mal alle Be­denken unterdrücken möchte. Solche besonderen Augenblicke sind anstrengender als die normal genannten, die es auch nie sind.

Du kannst unvermutet einem Menschen begegnen, von dem du genug weißt, um dich aller Phrasen zu enthalten. Die Bilder in deinem Kopf kannst du nicht verdrängen, sie haben mit der ganzen Welt und diesem Menschen zu tun, der dich angeht, auch wenn ihr euch noch nie begegnet seid. Er hat die Enge gesprengt, die du einhältst. Dieser Mensch hat nicht mehr Kraft und Gesundheit als jeder andere, als die meisten. Und hat dennoch Grenzen überschritten, etwas getan, was ein Beispiel liefert: für innere Kraft, gesichertes Wissen – und für Moral. Seine Gedanken haben sich in Handeln umgesetzt. Das ist gefährlich in dieser Welt, in der wir leben. Wenn Patrioten heraus­kriegen wollen, ob ihrer Heimat unverdiente Schläge drohen, dann weiß der Gegner sich zu wehren. Auch für nicht bewiesenes Handeln gibt es Todesstrafen. Daß fünf Kubaner überlebt haben, kann nicht vergessen machen, daß es sie die Hälfte ihres Lebens, in ständiger Gefahr, gekostet hat. Gerettet wurden sie nur, weil ein zugleich überschätzter und unterschätzter Präsident sie im Augenblick seines Abschieds freiließ.

Du kannst hoch geehrt werden, weil du eine Weile im Himmel verschwunden warst und gesund zurückkehrtest, oder weil du für dein Land der Sieger auf einer Laufstre­cke bist oder mit deinem schnellen Fuß am Ball. Seltener mit deines Herzens und deines Verstandes Kraft auf Klaviertasten oder den Brettern, die die Welt bedeuten. Geehrt, aber nicht geliebt, wenn du die Erklärung für einen Virus findest, an dem die Welt lange gelitten hat.

Aber hebe nicht den Finger, wenn die Macht sich gerade sicher fühlt. Sie kann blöd sein, ungebildet sogar, gefährlich ausgestattet mit Geld. So lehrt es die Geschichte. Ob sie mit Lippenbärtchen oder gelbrosa Hauptes daherkommt.

Seit ich erwachsen bin, tue ich meinen Mund auf, auch für die andern. Nur manchmal gehe ich aus dem Visier, denn ich habe auch ein Recht auf Schwachsein. Aber nun überfällt mich oft die Bedrängung, daß ich zu wenig Richtiges an der richtigen Stelle tue. Es fällt mir schwer, wenigstens Ansätze für das Richtige zu erkennen, um einzu­greifen, oder mich anzuschließen. Das Alter? Ja, aber nicht nur.

Ich bin nicht einverstanden damit, wieviel die von mir gewählte Regierung einem Mißbraucher von Recht, Gesetz und Moral zugesteht. Wie durchsichtig die Ausreden sind, wie zögerlich die Reaktionen auf neues zu erwartendes Unrecht. Kann ich da­rauf vertrauen, daß es in Deutschland keine Abstimmung über die Todesstrafe in der Türkei geben wird? Daß wir türkischen Mitbürgern keine Gelegenheit geben, ihre ursprüngliche Heimat zu verraten? Mein Vertrauen in die Sicherheit von Gesetzen schwankt. Es reicht nicht aus, die Politiker unserer Meinung zu versichern, die kennen sie. Und sie ahnen nicht nur, sie wissen, welches Risiko sie eingehen, wenn wir auch das noch unsicherer Abstimmung überlassen würden.

Es klingt fast selbstverständlich, und du blöder Bürger mußt das wohl einsehen, daß in der Türkei 50 000 – im weitesten Sinne Kollegen – eingesperrt sind. Ohne das Recht, nach einem ordentlichen Verfahren zu verlangen: weil das derzeit nicht exis­tiert. Was denkt Deniz Yücel heute über das Wagnis, sich den Behörden zu stellen und eine ordentliche Abarbeitung der Vorwürfe zu verlangen?

Ich habe versucht, nach Möglichkeit, immer der Vernunft den Vorrang zu geben – also zu denken, ehe ich mich bereitwilligen Gefühlen hingebe. Auf die Dauer führt auch das zu Defiziten. Es drängt mich, aufzuschreiben, was sich in den letzten 27 Jahren neben den Einsichten auch eingefunden hat: ein Recht darauf, Defizite auch so zu nennen. Ich will Verlust empfinden, wo er mir entstanden ist. Um so wertvoller, wo die Beharrung sich gegen Verdrängung wendet. Ich finde mich damit ab, daß ich einige Verluste nicht ertrage. Obwohl vieles im Alltag zur Gewohnheit geworden ist, erhofft oder unerwünscht.

Aber bin ich zu Hause?

Wo wär’ denn Heimat … aus der sind wir rausgeflogen … aufgeflogen? Erwartung … Erinnern … überfüllte Zeit … was für ein seltsamer Ort – Heimat ist mehr als ein Wort.