RotFuchs 207 – April 2015

Gisela Steineckert: Hand aufs Herz

Gisela Steineckert

Einmal, Mitte der achtziger Jahre, rief mich ein Schüler der zehnten Klasse aus Thüringen an. Seine Lehrerin habe den Abgängern eine Auswahl von Gedichten für die letzten Aufsätze angeboten. Robert wählte einen Liedtext von mir. Aber als er dann zu schreiben versuchte, was die Dichterin den Menschen sagen wollte, wurde es schwierig. Es stand ja alles schon da: „Soll der Mensch den Menschen nie mehr nach der Schlacht betrauern/muß auf dieser Erde eben/ Frieden wie das eigne Leben kostbar sein/ und dauern …“

Ehe Robert aber lange am Stift kaute, rief er mich an. Es war ein schönes, langes Gespräch, und wir einigten uns auf Lob für das Thema, aber auch Kritik an einer Stelle, die ich ihm vorschlug.

Für den Aufsatz bekam er eine Eins.

Und dann schrieb mir die Lehrerin: Robert hatte bei der Auswertung erzählt, er habe mich angerufen. Die Schüler waren begeistert. Sie hatten auch gleich einen Vorschlag: „Und jetzt rufen wir Heinrich Heine an.“

Diese Geschichte ist wahr und wurde viel belacht. Das wird sich ändern.

Noch zu meinen Lebzeiten könnte es sein, daß mich jemand erstaunt anguckt und sagt: „Ja, und? Warum solln se denn nich Heinrich Heine anrufen? Vielleicht is’ er nich zu Hause, aber er wird doch wohl ’n Anrufbeantworter haben. Kann er doch zurückrufen!“

Böse Unterstellung?

Gestern habe ich in der Zeitung gelesen: „Flüchtlinge kriegen keine Leistungen.“

Ich weiß, daß Sozialleistungen gemeint sind. Aber die Sprache ist verräterisch.

Knapp und kalt werden Bedürftige oft am Schalter abgefertigt, von überforderten Mitarbeitern, die sich vor Mitgefühlen schützen, und denen es inzwischen allzuoft egal ist, wer da was zu fordern oder zu erbitten sucht. Sei es eine Chance für eine aussichtsreiche Lebensleistung oder unverdienter Komfort. Eine meiner Töchter arbeitet in einem solchen Center. Ihre Abgeschabtheit und Überforderung ist nicht zu übersehen.

Die Sprache der Zeitungen – fast ausnahmslos! – ist grob geworden, trieft vor Stellungnahme und Vorurteil, und wir haben es mit einer Blüte der Ausschmückung von Behauptungen zu tun.

„Drei Präsidenten ehren die heiligen, die ,Ewigen Toten‘ vom Maidan.“ Neben Donald Tusk ist Bronisław Komorowski zu sehen, und natürlich unser Reisender für Betroffenheit, immer bereit für das falsche Wort am rechten Platz.

Die Trauerfeier ist zu ehren, denn Scharfschützen haben Menschen in Kiew von Dächern aus niedergemäht. Wer die Täter waren, blieb verdächtig unermittelt. Es hieß lange, sie seien unbekannt. Aber nun hat der Besitzer der ukrainischen Schokolade, überdies Verkäufer der meisten Bestattungen in der Ukraine, verkündet, es gäbe Beweise dafür, daß Russen die Mörder auf dem Dach waren. Warum zeigt er die Beweise nicht? Dann könnten wir doch auch empört sein und Putin noch einen Felsen in den Weg legen. Ihn nur zu beleidigen ist ja inzwischen abgenutzt. Ich wehre mich gegen den Vergleich, aber ich war als Achtjährige mit meiner dritten Klasse zum Pflichtbesuch in der Ausstellung „Das Sowjetparadies“. Ich kann mich nur an Stroh als angebliche Betten und an große Bilder erinnern, auf denen Hungernde zu sehen waren. Auch an das Wort „Vergewaltigung“. Über das ich nicht nachdachte, denn sein Kern „Gewalt“ war mir sehr bekannt. Von der Gruppe Baum erfuhr ich erst Jahrzehnte später und habe mich lange gefragt, ob der Preis, den diese wichtigen Menschen gezahlt haben, ihre Hinrichtung, nicht zu hoch war. Wenn ich allein daran dachte, wie schwach der Eindruck der Ausstellung auf mich blieb. Und ich war damals schon hoch begierig, über möglichst alles möglichst viel zu erfahren.

Was manche Sieger den Frauen der besiegten Männer antun, ist ein böser Teil der Weltgeschichte, und gerade eben, auch im schwachen Frieden, findet die Gewalt vor den Augen der Menschheit statt: Verheiratung schon als Kind, noch immer Beschneidung und ausgehandelte Hochzeiten, Entführung und Ehrenmord – oder Hinrichtung, wenn das Weib sich wehrt. Das ist Alltag in mehreren Ländern, immer noch.

Mich bekümmert auch, in welchem Ausmaß unsere Sprache sich der Verständigung entzieht, ihre Schönheiten immer weniger wahrnimmt, ihre Regeln mißachtet, sie verarmen läßt. „Es war, als ob der Himmel die Erde still geküßt …“, wer kennt noch die nächste Zeile? Wenn es mir schlecht geht, singe ich manchmal leise: „Ich möcht’ am liebsten sterben, da wär’s auf einmal still!“, ach und unser vielleicht schönstes Lied: „Der Mond ist aufgegangen …“ Ich könnte erzählen, wie ich dieses Juwel einmal in eigene Arbeit eingeflochten habe, aber ach …

Die Kritik darf fast alles. Sie darf auch in der Morgenzeitung verreißen, was am Abend vom Publikum bejubelt wird. Sie konnten es, ob Fontane, Tucholsky oder Polgar, Ihering und Anton Kuh …

Nur: Sie muß ein Risiko eingehen. Und dessen hat sie sich bewußt zu sein.

Die Arbeit der Kritiker wird im Idealfall einer gleichwertigen anderen Meinung ausgesetzt, die ihre berufliche Kompetenz in Frage stellen kann.

So war das jedenfalls, aber es ist nicht mehr so. Die Inkompetenz der Zuschauer, Leser oder Hörer ist ein Freibrief für die Geschmacksurteile der Rezensenten.

Manchmal sehe ich mir einen Teil der Serie „In aller Freundschaft“ an. Warum? Weil die Karusseit mitspielt, die ich freilich lieber mit den großen Altersrollen auf der Bühne sehen würde; weil Rühmann dieses schöne Theater am Rande der Republik betreibt; weil er auf dem Bildschirm eher untertreibt, statt sich aufzuspielen, und weil mich die Konflikte von Personal oder Patienten interessieren. Die Serie hat eben einen Preis bekommen. In einer Zeitung lese ich mit wenigen Zeilen einen groben Verriß, sehr arrogant und wie nebenbei, ähnlich unanständig nachlässig und total wie bei „Als wir träumten.“ Begründung für die Ablehnung der Krankenhaus-Serie: „Wunderheilungen in fünfzig Minuten.“ Das hat bei der „Schwarzwaldklinik“ niemand geschrieben, bei „Dr. House“, vielgerühmt, oder der amerikanischen Serie aus der Notaufnahme auch nicht, oder genauso. In all diesen Produkten geht es um Konflikte. Da wird über Bewältigungen verhandelt, die mir als Zuschauer vielleicht einen Rat geben. Oder mein Leben kommt mir im Vergleich viel schöner vor.

Ich erinnere mich an Hans-Joachim Stein, der für den „Eulenspiegel“ nach Westberlin durfte und einen Film glänzend und witzig verriß. Der war aber nicht gespielt worden. Stein hatte einen Tag Aufschub, schrieb neu und noch witziger. Lob und Ermahnung nahm er entgegen, aber beim Rausgehen sagte er leise zu mir: „Ick hab den aba imma noch nich jesehn.“ Mir ist dergleichen von Kritikern widerfahren; ich habe es zu unterlassen gewußt.

Aber ich meide, was sich inzwischen an Inszenierungen auf den Bühnen tut, denn ich habe dem Theater Erlebnisse zu danken, die ich in meiner Seele aufhebe. Ich will Macbeth nicht als Russenschimpf sehen. Und wenn Armin Rohde mir abends sein Können als Charakterdarsteller beweist, möchte ich nicht morgens lesen: „Als Schauspieler muß man wahnsinnig sein …“ Ach Gott! Und als Hausfrau nicht? Als S-Bahn-Kontrolleur?

Auch ich möchte mal nichts als glücklich sein. Und möglichst über Nacht das immer kaum zu Glaubende erleben: daß ein Frühling einzieht, in dem alles wiederkehrt. Immer dieser Fliederduft, dieser geschwängerte Wind in Werder, diese unwiderstehliche Erwartung: auf Zeit, auf Geduld, auf Einsicht, auf Nachdenken in den Köpfen, die jetzt unser Leben regieren. „Noch lebe ich, und also ist alles ein Anfang …“

Der Frühling kommt, da sprießt vielleicht auch die Hoffnung auf die Nelke der Vernunft. Und du, du sorge dafür, daß sie nicht allein regiert!