RotFuchs 204 – Januar 2015

Gisela Steineckert: Hand aufs Herz

Gisela Steineckert

Jeden Tag gucke ich mir in meiner Fernsehzeitung das kommende Programm an, um mit Vergnügen zu erkennen, wie wenig ich sehen muß. Von der maßlosen Jubelfeier im November habe ich zum Glück auch die „Goldene Henne“ nicht erlebt. So blieb es mir erspart, ein weiteres Mal den Mißbrauch meines Liedes „Als ich fortging“ wahrzunehmen. Im Jahr 1986 entstanden, kann es wohl kaum eine Abschiedsballade von der DDR gewesen sein.

Heute entnehme ich dem Werbetext für eine Dokumentation: „Auch wenn sie eine Familie nicht ersetzen konnten, so bildeten Kinderheime unter kirchlicher Leitung im sozialistischen Bildungsdiktat der DDR Inseln von Freiheit und Geborgenheit.“ In staatlichen Kinderheimen mußten die Säuglinge vermutlich morgens, vor der Flasche, erst einmal die Nationalhymne singen. Und eine Grußadresse an den Staatsratsvorsitzenden schicken …

Ist das Unbelehrbarkeit oder nur Routine bei der alltäglichen Verunglimpfung des gesellschaftlichen Lebens in der DDR – all dessen, womit wir in der DDR umgegangen sind? Was wir uns vorgenommen hatten, verändern wollten, verändert haben, manchmal auch aufgeschoben, aber nun wird es nie sein, denn es ist verloren, und der Verlust schmerzt, wie jede gut gedachte und nicht zu Ende gebrachte Arbeit.

Jeder von uns weiß allerdings vieles besser, als es uns jetzt dargestellt wird.

Es gibt ein kleines Buch von mir, das heißt: „Wie ein Waisenkind“. Erschienen ist es Mitte der siebziger Jahre, und da die Kerngeschichte in einem Heim für Waisenkinder beginnen sollte, besuchte ich in Berlin eins, ohne darüber nachzudenken, ob es ein christliches oder ein staatlich geführtes war.

Ich habe mit den Kindern gespielt und mit den jungen Erzieherinnen gesprochen.

Wir blieben in Verbindung, und ich konnte meine Geschichte beschwingt schreiben.

Womit haben wir diese oft von Unkenntnis getragene Herablassung verdient?

Der meist unerschrockene, kluge Pastor Schorlemmer sagt nun, daß ein Volk, welches zu sehr nach dem Mehr strebt, nicht gedeihen kann, wenn es sich dabei nur um Macht und Geld handelt. Hat er das schon gewußt, als er zur einseitigen Niederlegung der Waffen aufrief und das Schwert zum Pflug umschmieden wollte? Das gelang praktisch nicht, und symbolisch erst recht nicht. Er hat zu einer Wehrlosigkeit beigetragen, die den wehrhaften Vereinigern diente.

Wir stehen unter dem Generalverdacht, „es“ nicht gerafft zu haben. Daran ist was Wahres. Andere können besser raffen, und wir waren dabei, als die „Treuhand“, zur Umwandlung von Volksvermögen in privates Eigentum ermächtigt, gerafft und zusammengerafft hat.

Das alles ergab gewaltige und gewalttätige Veränderungen, die ein Volk erst einmal verkraften muß. Das von der Siegerseite aus zu bedenken, es gar einzuräumen, wäre unbequem. Es würde ein Umdenken erfordern, eine Besinnung auf Gerechtigkeit – und die ist nicht eben die Stärke unserer „Brüder und Schwestern“. Das habe ich an den meinen gemerkt, seit 1953 Bundesbürger, und 1989 von der Angst gepackt, wir wollten ihnen was wegnehmen.

Der normale Bundesbürger läßt, sofern er sie wahrnimmt, eine unbequeme Wahrheit über die Welt nur dann zu, wenn sie einer sagt, der Scholl-Latour hieß oder Weizsäcker heißt. Mit solchen Leuten legt man sich nicht an, richtet sich aber auch nicht nach ihnen. Die von uns kaum hinzunehmende Überheblichkeit hält uns historisch davon ab, unsere Kraft gemeinsam mit ihnen einer notwendigen Beeinflussung des Weltgewissens zuzuwenden.

Wir haben zu viele offene Rechnungen, die unter den Tisch geworfen wurden. Hatten wir nicht an der Ostsee einen blühenden Schiffbau mit vollen Auftragsbüchern? Wer hat entschädigungslos die Aufträge übernommen, und die Schiffbauer in die Arbeitslosigkeit geschickt? Meißner Porzellan macht Miese? Das Wundern hört auf, wenn man sich die „neue Produktpalette“ ansieht. Über Jahrhunderte erarbeitetes weltweites Ansehen wird aus Gier nach Mehr verspielt. Es gab in der DDR keine Produkte, die für den Weltmarkt getaugt hätten? Das nimmt nicht einmal die „Super-Illu“ hin, die sonst gern von früherer Unterdrückung berichtet und erstaunliche Erfolgsgeschichten vor allem der „neuen Freiheit“ dankt.

Nun meint ein Literaturkritiker öffentlich, sie hätten ein besseres Land und ein besseres Leben gehabt. Das hätten sie an uns verloren. Und dafür viel zu hoch gezahlt.

Das ist seine Meinung. Vielleicht war sein Deutschland für ihn ohne uns Ossis ein besseres Land. Aber wir sind für das Verlorene, das Umgewandelte, das Gentrifizierte, Zurückgegebene, Entschädigte, bis heute unterbezahlt. Denn es war ein durch unsere Arbeit nach dem Krieg wieder aufgebautes Land. Für das wir auch Opfer gebracht haben, und das uns dennoch mit seiner Friedfertigkeit, Emsigkeit, seiner wachen Unzufriedenheit und seiner latenten Bereitschaft, alles noch einmal zu bedenken, ein gutes deutsches Land war. Nie gut genug, aber es war unser Leben, unser Versuch, es waren unsere Einwände gegen das, was nicht gelang oder so nicht bleiben sollte.

Die meisten von uns verlangten mehr Beachtung für die eigene Stimme. Wir hatten es satt, dauernd das Behauptete als das Erreichte anzusehen. Aber wir hatten Grund, uns zu mögen. Hacks meinte, worauf sollten wir denn stolz sein, wenn nicht auf die DDR? Vierzig Jahre Solidarität statt Feindschaft. Hat Spielräume gekostet und oft das Herz weit gemacht.

Die Wiedervereinigung aber wird nicht stattfinden, wenn sie weiterhin an ihre nützlichen Urteile und ihre Vorurteile glauben, und sich in unserer Mitte einigeln.

Gewalt ist männlich, wir Frauen haben andere Möglichkeiten. Ich habe lange gedacht, daß wir Frauen nicht zum Krieg taugen. Obwohl wir als Kinder mütterlicher Gewalt ausgesetzt waren, habe ich das geglaubt.

Es gilt nicht mehr. Die Bereitschaft zur Gewalt kann in zierlicher Gestalt und mit weiblichem Lächeln und Ton erscheinen.

In ihrem Roman „Sackgassen“ schrieb Thea von Sternheim über das Alter: „Zeiten der Freiheit. Zeiten der Ernte.“

Es war für sie nicht so, und für uns ist es auch nicht so gekommen. Der genannte Literaturkritiker meinte, auch öffentlich, sie hätten ja gern gegeben, aber ein bißchen Demut dafür wäre doch angebracht gewesen.

Ja, das hättest du gern. Aber du wirst es nicht kriegen. Ihr seid nicht Jesus, nicht Mandela, nicht Angela, nicht Korczak, nicht Theodorakis, nicht Malangatana. Und gerade sie würden nicht wollen, daß wir knien. Sie würden wollen, daß wir mit ihnen tanzen und den nächsten revolutionären Versuch wagen.

Gewalt ist unmenschlich, aber geschlechtslos. Und manchmal ist es nur tief verankerte Überzeugung vom eigenen Mehrwert. Ich erinnere mich an 1992. Alice Schwarzer hatte mich als Jurorin für einen Wettbewerb von Journalistinnen eingeladen. Zum Abschied gingen wir gemeinsam zum Bahnhof, wollten aber in verschiedene Richtungen fahren. Etwas zögernd trennten wir uns, als die Kollegin vom „Stern“ sich besann: „Ach ja, ihr Ossis wollt doch immer die Hand.“ Sie hielt mir die ihre hin. Ich nahm sie und sagte: „Aber doch nicht ohne Glasperlen ...“

Für Demut gibt es keinen Grund. Wenn von Liebe schon keine Rede sein kann, könnte uns ein Verhalten auf Augenhöhe helfen.

Sonst wird sich vorerst zwischen uns nichts ändern.

P. S. Meine Kollegin Jana Hensel hat dem Literaturkritiker im „Freitag“ klug und selbstbewußt geantwortet. Ich bin ihr dankbar.

Als wir Recht hatten, alle
gerieten wir in die Falle
nun zählen wir die Narben
merken, woran wir darben
wir, nicht mehr gar so viele
der Horizont scheint uns blutrot
die Seele merkt auf
        und will mehr als Brot
treffen wir uns, laßt uns reden
wir brauchen jeden