RotFuchs 208 – Mai 2015

Juri Lewitan war die Stimme der Sowjetunion in schwerster Zeit

Goworit Moskwa – Hier spricht Moskau

O. Jewsikow

Es gibt Augenblicke, die man zeitlebens nicht vergißt. Am 22 Juni 1941 konnte ich, minderjährig wie ich war, das Ganze noch nicht erfassen. Ich sah um mich strenge Gesichter. Der Vater packte irgendwie unnatürlich und hastig den kleinen Koffer. Eine Stimme, die in stündlichen Abständen im Lautsprecher ertönte, prägte sich mir besonders ein. Das war die harte, alarmierende Stimme des Sprechers Juri Lewitan. Das erfuhr ich erst später. Doch von dem Tag an erwartete ich diese Stimme mit stockendem Herzen.

Juri Lewitan, Ansager im Unionsrundfunk, Verdienter Künstler der RSFSR. Kommunist. Seine Stimme ist Millionen Hörern bekannt. Mehr noch, in jenen schweren Zeiten wurde sie zur Stimme Moskaus. Für den Soldaten, der zum Angriff überging, für den Partisanen tief im Rücken des Feindes, für alle, die Front-Nachrichten erwarteten …

Im Herbst 1931 kam ein Junge aus Wladimir nach Moskau. Nichts an ihm fiel irgendwie auf – hager, mit schwarz eingefaßter Brille. Er hatte das Elternhaus verlassen, fast ohne Geld. Er wollte sich an der Hochschule für Filmschaffen immatrikulieren, wurde aber nicht aufgenommen – er war viel zu jung. Er war nahe daran, heimzukehren, als er plötzlich in einem Stellenangebot vom Ansagerwettbewerb erfuhr. Freilich hatte er eine sehr vage Vorstellung von diesem Beruf. Woher auch: der Rundfunk steckte noch in den Kinderschuhen. Juri war bis zur letzten, der fünften Wettbewerbsrunde vorgerückt, fiel aber dann doch durch. Die eigentümliche Sprechweise, wie sie in der Stadt Wladimir üblich ist, hatte ihm einen Streich gespielt. Immerhin blieb er aber doch beim Rundfunk, lernte viel, auch bei älteren Kollegen. Bereits nach zwei Monaten qualifizierte er sich zum Ansager von Radio Moskau. Die Zeit verstrich. Immer öfter wurden Juri Lewitan verantwortungsvolle Sendungen anvertraut. Bereits bei seinem ersten selbständigen Auftreten vor dem Mikrofon bewährte er sich als ein Ansager von stark ausgeprägtem Einfühlungsvermögen, als eine markante Persönlichkeit. Er nahm das Studium an der Rundfunkfakultät der Elektrotechnischen Hochschule auf. Tagsüber berufstätig, besuchte er am Abend die Vorlesungen, später die Höhere Theaterschule „Boris Stschepkin“ beim Wachtangow-Theater. Ob die Arbeit interessant sei? Juri Lewitan dachte nur kurz nach und sagte, sie gehöre wohl zu den interessantesten. Und zu den verantwortungsvollsten, „Wir informieren doch als erste das Volk über das Zeitgeschehen, sei es eine neue Glanzleistung am Hochofen oder das erfolgreiche Experiment mit Lunochod.“

Im April 1934 berichtete seine Stimme über die Heldentat der Tscheljuskin-Leute, über den Mut der sowjetischen Flieger, welche die Besatzung der Schmidt-Expedition aus der Eisgefangenschaft befreit hatten. Im Mai 1937 kam die Meldung von der beispiellosen Drift der Papanin-Leute. Juri Lewitan wandte sich feierlich an alle Welt, Millionen verfolgten an Rundfunkempfängern die Berichte über die tapferen sowjetischen Flieger Tschkalow, Baidukow und Beljakow, über ihren bis dahin in der Geschichte einzigartigen Nonstop-Flug Moskau – Nordpol – Amerika. Zu den Ergebnissen der ersten Fünfjahrpläne teilte die Stimme Moskaus mit: „Dneproges ausgelastet!“ „Der erste Hochofen in Magnitogorsk in Betrieb genommen.“ Vielleicht machen diese erhabenen Augenblicke gerade den Sinn des ganzen Lebens eines Ansagers aus?

Juri Lewitan erinnert sich: „Der Krieg begann für mich mit dem Anruf aus dem Rundfunkkomitee, schnellstens ins Funkhaus zu kommen. ‚Halten Sie sich bereit. Um zwölf Uhr kommt eine Regierungsmeldung.‘ Um die Mittagszeit sagte ich dann auch, die Aufregung kaum unterdrückend: Hier spricht Moskau!“ … Neunmal las Juri Lewitan an jenem Tag diese Mitteilung über den Ausbruch des Krieges vor. Ich entsinne mich, wie er das machte. Ich entsinne mich seiner Stimme. Darin war alles: Schmerz, Vertrauen, Hoffnung. So etwas vergißt man nicht. Einmal fiel eine Bombe auf das Gebäude des Rundfunkkomitees. Die Sendungen setzten aus. Der faschistische Rundfunk verkündete bereits die Zerstörung des sowjetischen Rundfunkhauses. Doch es war keine Viertelstunde vergangen, als im Äther wieder die ruhige Stimme Lewitans ertönte. Besonders ungeduldig warteten alle Sowjetbürger auf Meldungen vom Kriegsschauplatz. Auch die Faschisten wußten, was diese Stimme für die Sowjetmenschen bedeutete. Nicht von ungefähr wurden in einem feindlichen Flugblatt 200 000 Reichsmark „Kopfgeld“ für Juri Lewitan versprochen. Indes überstürzten sich die Ereignisse: Vom 1. Dezember 1941 an wurde in den faschistischen Blättern täglich Platz für eine Mitteilung über die Besetzung Moskaus reserviert … Moskau aber harrte aus! Am 6. Dezember nachmittags übermittelte Radio Moskau: „Unsere Truppen sind zu einem Gegenangriff übergegangen.“ Lewitans Stimme verriet Jubel und Stolz auf den beispiellosen Heroismus, den Mut und die Standfestigkeit der besten Söhne des Volkes. Das war ein Wendepunkt im ganzen Krieg, der Beginn der historischen Mission der Sowjetarmee zur Befreiung Europas.

Tag und Nacht lauschte man der Stimme Lewitans. An der Front, unter den Partisanen, in der Illegalität, im Hinterland, in Europa, in der ganzen Welt. Die Stimme Moskaus bestärkte den heiligen Haß gegen den Feind, die unerschütterliche Siegeszuversicht. Endlich kam das Lang-ersehnte: Die Sowjettruppen haben über dem Reichstag in Berlin die Siegesfahne gehißt! Im Befehl Stalins, den Juri Lewitan am 9. Mai 1945 verlas, wurde das Fazit des Großen Vaterländischen Krieges gezogen, einer blutigen Schlacht, die das Sowjetvolk gegen den Faschismus geführt hatte. Im Namen der Freiheit, des Humanismus und der Gerechtigkeit.

… Wir machten es uns in der gemütlichen Wohnung Lewitans bequem. Der Gastgeber bewirtete uns mit starkem Tee und berichtete über seine Arbeit, über Begegnungen mit Hörern; auch im Ausland. „Was ich besonders gern verlese? Die letzten Nachrichten, politische Sendungen, Publizistik. Bei literarischen Sendungen lese ich Gedichte Majakowskis, Simonows, Surkows … Ob ich mich vor den Sendungen aufrege? Offen gesagt, ja. Hauptsache aber, daß die Hörer meine Einstellung zum Text spüren …“

Dieser Beitrag erschien erstmals in Nr. 4/1972 der DDR-Zeitschrift „FF dabei“.