RotFuchs 220 – Mai 2016

Hätte die UdSSR ohne den Rüstungswettlauf überleben können?

Prof. Dr. Achim Dippe

Der Artikel „Blieb der Sozialismus in der UdSSR beim Rüstungswettlauf auf der Strecke?“ von Hermann Jacobs, erschienen im „RotFuchs“ (Februar 2016), beleuchtet aus politisch-historischer Sicht Entscheidungssituationen, vor denen sowjetische Politiker in der Partei- und Staatsführung von 1945 bis 1990 standen. Der Autor stellt fest, daß die großen Rüstungsanstrengungen der Sowjetunion zu Lasten der gestellten sozialökonomischen Ziele (Lebensstandard, Infrastruktur, Kultur und Bildung) gehen mußten. Er schreibt, die Sowjetunion verzichtete „de facto auf das, was sie nicht mehr zu garantieren vermochte, ihren Anspruch, den Sozialismus weiter zu vervollkommnen …“ Die Bewertung der damaligen Jahrzehnte mit historisch bedeutsamen Entscheidungssituationen für die sowjetische Partei- und Staatsführung ist zweifellos vielschichtig und nicht einfach. Gab es aber wirklich keine andere Möglichkeit, der imperialistischen Bedrohung erfolgreich zu begegnen?

Im Rahmen der Alphabetisierungskampagne lernt ein Bauer lesen und schreiben.

Im Rahmen der Alphabetisierungskampagne lernt ein Bauer lesen und schreiben.

Für den amerikanischen Imperialismus gibt es seit Jahrzehnten in ungebrochener Kontinuität eine strategische weltpolitische Orientierung von zentraler Bedeutung: Die UdSSR war der Todfeind Nr. 1. Heute ist Rußland der erklärte Hauptfeind. Die Sowjetunion war die lebendige, praktisch sichtbare gesellschaftliche Alternative zum imperialistischen Herrschaftssystem mit großer internationaler Ausstrahlung. Für die USA war klar, ohne direkte militärische Konfrontation mußte das neue, sich im Auf- und Ausbau befindende Gesellschaftsmodell Sozialismus ernsthaft beschädigt und letztlich vernichtet werden. Das „Totrüsten“ war die ideale politische, ökonomische, finanzielle und technologische Keule, die nach 1945 alle Seiten der amerikanischen Politik beherrschte. Wesentliche Ausgangsgrößen für die Ausarbeitung der amerikanischen Strategie des Totrüstens waren Schwachstellen in der sowjetischen Wirtschaft und Wissenschaft, im Wirken der Partei und des Staates. Der enorme Rückstand im Niveau der Arbeitsproduktivität, die technologische Zurückgebliebenheit vieler Zweige der sowjetischen Industrie, die geringe Leistungsfähigkeit der sowjetischen Landwirtschaft und die nicht auf die Erfordernisse der wissenschaftlich-technischen Revolution eingestellte Leitung, Planung und Stimulierung der Betriebe und Forschungsinstitute waren unübersehbare Fakten.

Parade des Sieges über den Faschismus, Moskau, 24. Juni 1945

Parade des Sieges
über den Faschismus,
Moskau, 24. Juni 1945

Der aufgezwungene Rüstungswettlauf hat die Schwächen und Defizite des in der Sowjetunion praktizierten Sozialismusmodells erbarmungslos aufgedeckt und verschärft. Er hat zu massiven Umverteilungen von Kräften und Mitteln, zum Sparen und zum Streichen von volkswirtschaftlich bedeutsamen Projekten gezwungen. In Verantwortung für den Schutz des Vaterlandes, um ein zweites 1941 nicht zuzulassen, und für die Sicherung des Weltfriedens lagen die Rüstungsausgaben der UdSSR 20 Jahre lang beträchtlich über denen der USA. Im Zeitraum 1971 bis 1988 waren das pro Jahr im Durchschnitt 35 Mrd. Dollar Mehrausgaben. Die Dimension der Belastung für die sowjetische Volkswirtschaft kann an zwei Zahlen abgelesen werden: Im Jahr 1980 wurden Kräfte und Mittel in Höhe von 201 Mrd. Dollar für die Rüstung eingesetzt. Dieser gewaltige Rüstungsetat wurde bis 1988 auf 317,9 Mrd. Dollar erhöht. Bis 1960 war die UdSSR den USA hinsichtlich der Anzahl einsatzfähiger atomarer Sprengköpfe hoffnungslos unterlegen. 20 434 atomaren Sprengköpfen der USA standen 1605 auf sowjetischer Seite gegenüber. Der Rückstand wurde im Verlauf von 20 Jahren mehr als wettgemacht. Die U-Boot-Flotte war eines der schärfsten Schwerter zur Verteidigung der UdSSR. Bis Ende der 80er Jahre stellte die Sowjetunion den amerikanischen Seestreitkräften eine Vielzahl von Atom-U-Booten verschiedenster Zweckbestimmung mit gewaltiger militärischer Schlagkraft entgegen. So wurden ca. 140 strategische Atom-U-Boote, geeignet für den Abschuß ballistischer Raketen und von Marschflugkörpern, in Dienst gestellt. Daneben waren ca. 75 atomar angetriebene Jagd- bzw. Mehrzweck-U-Boote im Einsatz. In diesem Zeitraum wurde auf den Gebieten Atomwaffen, Raketentechnik, Kampfflugzeuge und U-Boote überragend demonstriert, daß die USA nicht mehr alleiniger Beherrscher des Weltraums, der Ozeane und der Luft sind. Die Parität im Rüstungswettlauf bei den strategischen Waffensystemen hat ausschließlich die UdSSR gesichert. Die anderen RGW-Staaten konnten aufgrund ihrer geringen wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Potentiale dazu nur einen minimalen Beitrag leisten. Das trug dazu bei, daß die sowjetische Volkswirtschaft bis an die Grenze der Belastbarkeit gefahren werden mußte.

Juri Gagarin, der erste Mensch im Weltraum

Juri Gagarin,
der erste Mensch im Weltraum

Die sowjetische Führung hat vor den enormen Herausforderungen der vom Imperialismus initiierten Hochrüstung nicht kapituliert. Unter größten Anstrengungen wurde die waffentechnische Parität weitgehend gesichert, und in Kombination mit einer geschickten Diplomatie wurden dem Imperialismus seine Grenzen aufgezeigt. Diese Politik mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Entwicklung modernster Waffentechnik, für die Organisation der Landesverteidigung, für die Gewährleistung eines hohen Versorgungsgrades der Armee ist von bleibender historischer Bedeutung. Aber eine das Schicksal des Sozialismus sichernde Strategie wurde nicht entwickelt. Der Rüstungswettlauf war der langandauernde, unüberhörbare Weckruf, die sowjetische Gesellschaft, die Volkswirtschaft politisch, ökonomisch und sozial grundlegend zu reformieren, auf eine neue Stufe zu heben. Es gab mit den Gedanken von Libermann und anderen Ökonomen und Philosophen hinreichend Anregungen und Konzepte, wie das erstrebte Sozialismusmodell und die wissenschaftlich-technische Revolution zu einer wirksamen Einheit hätten verschmolzen werden können. Es war die Zeit herangereift, unabhängig vom Rüstungswettlauf neue Ideen auf neue Art und Weise hervorzubringen und schnell zu materialisieren, alle Ressourcen des Landes sparsamer und effizienter zu nutzen, der Arbeitsproduktivität und der Qualität der Arbeit und der Produkte eine andere Wertigkeit im betrieblichen Alltag einzuräumen und auch anders zu vergüten, die Volkswirtschaft zu einem ökonomisch und finanziell starken Unterbau für die Rüstungsproduktion auszubauen. Die Sowjetunion mußte sich so oder so mit ihrem Sozialismusmodell dem internationalen ökonomischen Wettbewerb stellen und seine vorhandenen Stärken in der Praxis nachweisen.

Für diese grundlegend neue, weitreichende Ausrichtung der sowjetischen Gesellschaft als Gegenstrategie zur imperialistischen Vernichtungsstrategie gab es durch die Parteitage der KPdSU und durch die Tagungen des Obersten Sowjets genügend große qualifizierte Foren, auf denen Weichenstellungen hätten vorgenommen werden können. Schon 1956 auf dem XX. Parteitag der KPdSU wäre das möglich gewesen. Leider war die Orientierung rückwärtsgerichtet. Die später unter der Federführung von Gorbatschow proklamierten Maßnahmen und Veränderungen waren meilenweit von einer notwendigen Weichenstellung für die sowjetische Wirtschaft und Gesellschaft entfernt. Sie waren weitgehend destruktiven Charakters.

Es waren Versäumnisse strategischer Dimension mit tragischem Ausgang von welthistorischer Bedeutung. Objektiv betrachtet hat die sowjetische Führung mit ihrer Politik der Fortführung des bisher Bewährten, mit dem Verdrängen anstehender Probleme und Konflikte und ihrer Scheu vor den Risiken des Neuen in der Wirtschaft und im Alltagsleben der Sowjetbürger das Wirken der amerikanischen Vernichtungsstrategie erleichtert. Im Denken der maßgeblichen Politiker in der Partei und im Staatsapparat war nicht ausgeprägt, daß die Dynamik einer gesellschaftlichen Ordnung nur dann gesichert werden kann, wenn all ihre Bestandteile ständig qualitativ vervollkommnet werden, wenn kontinuierlich nach besseren Lösungen gesucht wird. Eine realistische Sicht auf die damalige Zeit vermittelt aber auch die Erkenntnis, daß die grundlegende Reformierung der Wirtschaft und des Staates unter dem Schirm der Hochrüstung im Kalten Krieg unvergleichlich größere Anstrengungen erfordert hätte, als die Parität im Rüstungswettlauf zu sichern. Diese Schritte in Richtung Reformen hätten der Wirtschaft und der Wissenschaft nicht nur einen großen Schub gebracht, viele rüstungsspezifische Entscheidungen hätten materiell-technisch, ökonomisch und finanziell besser geordnet werden können. Für die politische Umsetzung von zwei so großen gesellschaftlichen Orientierungen – grundlegende Reformschritte durchsetzen und mithalten im Rüstungswettlauf, ohne in die Defensive zu geraten – waren ohne Zweifel wichtige Voraussetzungen gegeben. Viele Millionen hochqualifizierter technischer und ökonomischer Kader sowie der reiche Erfahrungsschatz und das kritische Urteilsvermögen Zehntausender Wirtschafts- und Wissenschaftspraktiker wären wichtige kreative Potentiale gewesen. Historisch gesehen gab es in der KPdSU große politische Erfahrungen bei der Mobilisierung der Bevölkerung für die Durchsetzung bedeutsamer vaterländischer Ziele. Im Zentrum einer solchen Mobilisierung hätte das Ziel stehen müssen, mit einer sozialistischen Marktwirtschaft und einer von den Massen gewünschten wirksamen parlamentarischen Demokratie –ohne Aufgabe der Führungsrolle der KPdSU – dem Imperialismus ökonomisch, finanziell und waffentechnisch die Stirn zu bieten.

Die amerikanische Strategie des Totrüstens hat nicht das Schicksal des Sozialismus in der UdSSR und in den anderen RGW-Ländern besiegelt, wohl aber beschleunigend auf seinen Untergang gewirkt. Die Ursachen des Scheiterns liegen im Zustand der Volkswirtschaften, ihrer fehlenden Dynamik, im Wirken der Partei und des Staates, in der fehlenden Anziehungskraft der Formen und Methoden sozialistischer Demokratie. Die sowjetische Antwort auf die amerikanische Strategie war absolut unverzichtbar und hat bis 1990 maßgeblich den Weltfrieden gesichert. Sie enthielt aber keine zukunftssichernden Elemente für den Sozialismus, blieb weitgehend waffentechnischer, militärorganisatorischer und administrativer Natur.

Im Auflösungsprozeß der UdSSR in den Jahren 1989 bis 1990/93 haben Gorbatschow und Jelzin allen sowjetischen Anstrengungen zur Sicherung der waffentechnischen Parität mit dem amerikanischen Imperialismus eine große, gefährliche Lüge übergestülpt, die ihrem Charakter nach Vaterlandsverrat war: Mit der politischen Leitlinie, vom Imperialismus gehe Ende des 20. Jahrhunderts keine Gefahr für den Sozialismus mehr aus, wurde die sowjetische Rüstungsindustrie als verzichtbar, ja zum Ballast am Körper der Volkswirtschaft erklärt. Während die USA im Jahre 1989 militärische Rekordausgaben von 294,8 Mrd. Dollar realisierten, wurden in der Sowjetunion gerade noch 119,4 Mrd. Dollar für die Rüstung ausgegeben. Die Schere in den Rüstungsausgaben der beiden Länder ging bis 1993 immer weiter auseinander. Der Rüstungsetat der USA betrug 1993 277,2 Mrd. Dollar, der Rußlands hatte nur noch ein Volumen von 29,1 Mrd. Dollar. Neue Waffensysteme wurden nicht mehr entwickelt, vorhandene Militärtechnik wurde nicht mehr modernisiert, das gesamte Kriegsgerät auf Verschleiß gefahren. Die unter Gorbatschow und Jelzin eingeleitete totale Vernachlässigung und Diskriminierung eines entscheidenden Sicherheitsfaktors des Sozialismus war ein Geschenk an den Imperialismus. Die große Leistung zur Sicherung der waffentechnischen Parität über viele Jahrzehnte hinweg wurde auf dem Altar einer erbärmlichen politischen Kapitulation vor dem Imperialismus in den Dreck getreten.

Es gehört mit zu den Verdiensten von Wladimir Putin, nicht nur dem Rohstoffraub durch amerikanische Konzerne auf russischem Territorium einen Riegel vorgeschoben zu haben, sondern – in Anknüpfung an große Traditionen der sowjetischen Rüstungsindustrie – der waffentechnischen Entwicklung, dem Militär, der Organisation der Landesverteidigung schrittweise wieder den Platz einzuräumen, der einer Großmacht gebührt.

Für das kapitalistische Rußland heute sind die amerikanischen Rüstungsziele nicht weniger gefährlich als zu Zeiten der Sowjetunion. Die Situation ist in vieler Hinsicht sogar noch komplizierter und schwieriger geworden. Der weiter bestehende und stark belastende Rohstoffexportfluch, die Zwänge und Sanktionen durch das von den USA beherrschte Finanzsystem, die nicht mehr nutzbaren Potentiale der ehemaligen Sowjetrepubliken und die fortschreitende Einkreisung Rußlands durch die NATO haben den Schwierigkeitsgrad für die Verteidigung des großen Landes zweifellos erhöht. An eine Kapitulation vor dem US-Rüstungswahn mit seinen höchst aggressiven und erpresserischen Seiten und Folgerungen wird aber offensichtlich in Rußland nicht gedacht.