RotFuchs 219 – April 2016

Gisela Steineckert: Hand aufs Herz

Gisela Steineckert

Begreifen entspringt nicht immer den edlen Quellen unseres Gehirns. Manchmal reicht es schon, sich einfach dem auszusetzen, was man „das Leben“ nennt. Es brandet, stößt mit Füßen, drängelt sich dazwischen und vor, mahnt zu Unzeiten und mit unfairen Mitteln und gewährt nur selten das Gefühl, man könne sich doch mal auf die Gartenbank setzen.

War das Leben im Biedermeier schöner? Haben die Leute da sonntags am Nachmittag selig lächelnd auf den köstlichen Napfkuchen geguckt, aus ihren schönen Täßchen seltenen Kaffee getrunken, danach Hausmusik gemacht, oder Verwandten zugehört, die ihr vielleicht geringes Wissen über die Welt zum x-ten Male ausbreiteten und meist Urteile abgaben, die auf Vorurteilen beruhten?

So schöne Möbel, ich habe sie vor Jahrzehnten gesammelt und mich von den schönsten Stücken bis heute nicht getrennt. Galt dunnemals jemand, der täglich die Zeitung las, schon als ein weltbefahrener Mensch? Vermutlich ein Mann, aber es kann ja auch die treue Leserin der „Gartenlaube“ gewesen sein, die etwas beizutragen wußte. Ach, manchmal möchte ich mich in die zu Unrecht als allzu gemütlich geltende Zeitschrift vertiefen, und mich vom Fortsetzungsroman in Spannung versetzen lassen.

Dienstmädchen oder Klavierlehrerin, Gattin oder sparsame Hausfrau – welch ein langweiliges Dasein. Na ja, das sehen wir heute so. Wir aufmüpfigen Weiber, die ihre Überforderung, ihre überschätzte Kompetenz und die Verantwortung für das eigene Leben zu tragen haben und darüber genug zu jammern wissen.

Da muß Freude her! Überwältigt werden für einen Lebensmoment und für etwas, was man selber nicht mühselig backen, kochen, schreiben, organisieren und verantworten muß.

Manchmal habe ich Sehnsucht nach wenigstens einem glücklichen Gesicht. Ich hab sie gesehn, viele!, beim Abschiedskonzert der Puhdys. Die Gesichter der fast zwölftausend jungen und älteren Leute im Publikum waren ganz offen, ganz im Spiel, in den unterschiedlichen Gefühlen, zu denen die Lieder sie anzustiften wußten. Diese Gesichter waren ebenso wie die der Künstler von einer wunderbaren, herübergreifenden Entspanntheit, bei gleichzeitiger völliger Konzentration. Ich sah einige Menschen, die glaubte ich zu erkennen aus früherer gemeinsamer Arbeit. Bei denen hat es mich nicht so gewundert, daß sie jeden Text kannten und mitsangen. Das haben sie vielleicht früher als FDJ-Mitglied bei feierlichen Anlässen auch gemacht. Aber so haben die damals nicht ausgesehen. Noch erstaunlicher waren für mich die ganz jungen Leute. Ich hätte nie gedacht, daß auch die alle Texte kennen, mitsingen, und sich zu ihnen bewegen könnten. Sie waren von einer so schönen Entspanntheit geprägt, daß es mir schien, mit ihnen zu tanzen, sei über die Generationen hinweg ganz einfach.

Von der Bühne kam Liebe, und die kriegten die Puhdys zurück. Bis zum letzten Ton schlug die Stimmung aus Abschiedstrauer, Zweifel daran und ganzem Vergnügen nicht einen Augenblick in Länglichkeit oder Müdesein um. Es ging mir ja genauso, leider nur vor dem Fernseher. – Es war schon der gemeinsame Anfang, der anders klang, als hätten die Künstler allein gesungen: „Was bleibt, was uns bleibt, sind Freunde im Leben …“

Und dann blieb es schön im Hals stecken, als fast zwölftausend Menschen ganz offen, ganz heiter singend meinten, nicht nur sangen: Weil ich hier geboren bin, gehöre ich hierher. Außerhalb einer rein politischen Veranstaltung habe ich lange nicht so überzeugend gesehen, daß es dieses Lebensgefühl, diese Kraft für das Vergnügen und den unvermittelt wieder eintretenden Ernst als pure Lebendigkeit eben gibt. Ich kann mich auch für die Jetztzeit nicht erinnern, eine solche Übereinstimmung zwischen denen auf der Bühne und dem Publikum erlebt zu haben. Die waren alle freiwillig erschienen und haben diesen Riesenraum mit Nähe und Intelligenz gefüllt.

Hab ich das nie erlebt? Na ja, als Harry Belafonte auf die Bühne kam. Da hab ich auch geweint, damals … Ich betone das „damals“! Und dann, als wir mit Miriam Makeba gesungen haben. Wenn ich ehrlich bin, hat sie für meine Ohren gar nicht so besonders schön gesungen, aber es gab ja ihre Geschichte, und wir wußten, daß Harry Belafonte sie aus Südafrika und ihren damaligen Gefährdungen gerettet hat.

Es war auch schön, als Gilbert Becaud, als Herman van Veen und als Süverkrüp für uns gesungen haben, im Palast der Republik, von dem „Maschine“ gesagt hat, daß es ihn nicht mehr gibt: aber das Lied, das dort Premiere hatte, singen sie immer noch.

Es tut den Erinnerungen von damals nichts, und es bleibt schön, daß Süverkrüp an jenem Abend zu mir sagte, er singe hier bei uns seine Lieder fast doppelt so schnell wie zu Hause, weil das Publikum hier alle Anspielungen doppelt so schnell versteht. Er meinte, zu Hause müsse er zu jedem Namen eines Politikers etwas Erklärendes sagen, hier kennen die Leute nationale und internationale Politiker genau und wissen sie zu unterscheiden.

Und es war für mich interessant, mit Herman van Veen an einem Abend bei Gisela May eine Live-Chansonsendung zu machen. Herman war sehr vergnügt, küßte uns alle, schenkte jeder von uns seine letzte Platte und lud uns für hinterher in ein Restaurant ein. Aber kaum erloschen die Scheinwerfer, erfuhren wir, daß vor Stunden ein Flugzeug mit Schülern über Schönefeld abgestürzt war. Herman van Veen sah, daß wir eng beieinanderstanden, redeten und weinten. Er fragte bestürzt, ob in diesem Flugzeug Angehörige gewesen wären. Wir verneinten das und wollten trotzdem nicht mehr mit ihm essen gehen. Das hat er nicht verstanden. Und ich wußte so ein weiteres Mal, warum wir uns umarmen und gegenseitig bewundern können und trotzdem eine Distanz bleibt. Ist die inzwischen verschwunden? Ich weiß es nicht. Aber ich werde den Teufel tun, mich über einen solchen Abend wie den mit den Puhdys nicht von ganzem Herzen zu freuen. Und mich einmal mehr zu wundern, daß sogenannte Unterhaltung und eigentlich zu große Ansammlung von Menschen für eine intime Atmosphäre wohl doch geeignet sein können.

Und gelacht hab ich auch. Ich wollte auch die Eisbärn sehn. Und ließ mich sogar dazu hinreißen, es nicht ganz falsch zu finden, daß alles eine Sache der Ansicht ist. Und wieder habe ich mich gefragt, durch die Lieder aus dem Film wurde das geweckt: Wieso haben wir eigentlich den Paul akzeptiert? Er war doch ein eher humorloser Spießer, ein verheirateter Mann im Ehebruch, einer mit Aktentasche. Ich habe ihn ernst genommen, weil er etwas Wunderbares gemacht hat und dazu fähig war: Er hat seine Paula geliebt. Und er war nicht zu feige, diese Liebe anzunehmen und zu leben. Daß dieser wunderbare Kerl in ihm steckte und daß die Liebe diese Seite aus ihm holen konnte, das war ein Wunder, wie es manchmal im Leben ja auch vorkommt. Die Lieder aus jenem unvergessenen Film sind inzwischen in den großen Liederschatz eingegangen, den es in jedem Volk gibt. Kann man sagen, daß diese Rockballaden Kunst sind? Ja, sie haben sich, dem „nachtragenden“ Publikum sei Dank, dort hinbewegt. „Wenn ein Mensch lange Zeit lebt …“ ja, ich weiß! Aber den Text von Tausenden auf einmal wie lange geübt zu hören und dann die Hymne der DDR und die der BRD sinnfähig aneinandergereiht, das leuchtete ein, das konnte ich mittragen. Der Abend war für mich nicht nur ergreifend, er hat mich auch belehrt, daß es kein Gesamturteil über eine Generation gibt.

Ich habe zu danken und Grund, mich zu freuen.

Gruß an die Puhdys und bitte, recht bald, bis zum nächsten Mal!