RotFuchs 221 – Juni 2016

Heinrich Mann: Der 22. Juni 1941

RotFuchs-Redaktion

Der 22. Juni 1941 ist der wirklich entscheidende Tag des Jahrhunderts. Damals geschah es, daß der Angreifer an den Rechten kam. Eine Macht kann noch so furchtbar angeschwollen sein, einmal begegnet sie dem unbeugsamen Willen, der ihr widersteht. Wenn der Angreifer nach allen seinen Erfolgen kein Maß und Ende mehr kennt, kommt der Zeitpunkt, ihm das Gesicht eines unbefangenen Kämpfers zu zeigen. Das ist das Sowjetvolk. Es hat den Willen, es hat die Kraft; es hat, was dem Angreifer ganz und gar fehlt, die lebendige Idee. Alles zusammen ergibt dies die menschliche Wahrheit. Die unfehlbare Bürgschaft des Sieges heißt: wahr sein.

Das Deutschland des Betrügers Hitler ist verlogen von Anbeginn. Diese Deutschen müssen die Eroberer spielen, müssen massenhaft töten und sterben für nichts, für ungeglaubte Ziele, für einen Niemand, der nicht existiert. Der Niemand heißt Herrenrasse und wird vorgestellt von rauschsüchtigen Knechten, sie wissen nicht, was sie tun. Das Ziel ist die Gewalt über Europa, gerade der Teil der Welt, der eine geist- und sittenlose Gewalt am weitesten hinter sich gelassen hatte. Aber darum konnte der deutsche Überfall auf Europa in seinen ersten Etappen so leicht gelingen. Alle hielten, was dann doch geschah, für moralisch unmöglich.

Das war es auch und ist nachgerade unmöglich bis zum Grauen geworden. Kein ehrlicher Sieg hat stattgefunden; jedes der Länder, wo der Betrüger triumphierte, war vorher unterwühlt und war ihm verraten worden. Anstatt daß dieser offenkundige Tatbestand ihn wenigstens gemäßigt hätte, schweifte er abscheulich aus und beherrscht nunmehr den Kontinent mit dem Schrecken allein. Ein Unberufener kann überhaupt nicht herrschen. Eine Macht, die überall mit List erschlichen ist, hat, um sich zu behaupten, nur den Schrecken, und der frißt ihn selbst. Er wird schändlicher von jeder Schande, die er an gequälten Menschenmengen verübt. Seine Hinrichtungen ganzer Massen von Europäern sind schon heute bestimmt, mit dem Blut seiner unseligen Deutschen dereinst bezahlt zu werden. Sein widerwärtiges Transportgeschät mit weißen Sklaven aus den höchstentwickelten Völkern ist das Muster des schlechthin Unmöglichen. Danach bemesse man den Wert des Wirtschaftssystems im „deutschen Europa“, dessen Menschen erniedrigt werden müssen, damit es ausgebeutet werden kann.

Das Sowjetvolk hat diesen Hitler gekannt, bevor er es angriff, das ist die große Ausnahme und der Glücksfall dieses Krieges. Das Sowjetvolk hat Hitler nicht für unbesiegbar gehalten; es hat ihm niemals weder das „Genie des Bösen“ noch sonst ein Übermenschentum zugetraut: Der Unsinn geht in der Welt noch heute um, während Hitler, die gehetzte Unfähigkeit, durch ein falsches Glück außer Rand und Band, jetzt zwischen Aufständen und Niederlagen verzweifelt um sich schlägt. Der einzige Gegner, der ihn zu Lande besiegen kann, blieb sogar in den schlimmsten Stunden unverzagt, weder Übermut noch seelische Erschütterung waren ihm anzusehen: Einzig und allein der wohlbedachte Entschluß, sich des Greuels zu erwehren, die fest geglaubte Berufung, mit ihm fertig zu werden.

Euer Volk blickt zurück auf zwanzig Jahre der standhaften Arbeit an sich selbst, gerade darum blickt ihr vorwärts auf eine Welt, die von euch gelernt haben wird. Es lohnt, für den sozialistischen Humanismus so tapfer zu sein wie ihr.

Der Dank der Welt wird nach eurem Sieg, den alle Völker ohne Ausnahme ersehnen und nur manche Regierungen noch immer nicht, der Dank wird bis zum Überschwang nicht gehen: Erprobte Menschenfreunde, wie ihr seid, sehen auch dies voraus. Die Sowjetunion und ihre Mannschaft werden zufrieden sein mit der Anerkennung durch die Tatsachen selbst. Europa – wenn das Schicksal auch diesmal seine Rettung aus selbstverschuldeten tödlichen Gefahren zuläßt, wird es von allen verbündeten Nationen gerettet sein, wäre aber verloren gewesen ohne die Sowjetunion. Schon was sie in diesem ersten Jahr getan hat, beschämt den einzelnen, der danken möchte. Ihr seid zu ernst, zu reich an Taten, die Worte werden klein, wir schweigen.

Aus: Heinrich Mann, Essays, 3. Band, Aufbau-Verlag, Berlin 1962