RotFuchs 218 – März 2016

Ein von Hitlers Justiz zum Tode Verurteilter vor dem BRD-Gericht

Heinz Keßler gab keinen Meter Boden ab

Heinz Keßler

Im folgenden veröffentlichen wir (leicht gekürzt) die Verteidigungsrede Heinz Keßlers vor dem Gericht.

Zu den historischen Abläufen und Zusammenhängen der internationalen Entwicklung und der völkerrechtlichen Beziehungen zwischen den beiden Staaten BRD und DDR, die selbständige souveräne Mitglieder der UNO waren, und zum Platz und zur Rolle der DDR in der Völkergemeinschaft, wurden hier in diesem Gerichtssaal am 3. Dezember 1992 von kompetenter Seite Ausführungen gemacht. Da diese die lange Zeit währende Praxis reflektieren, finden sie meine Zustimmung.

Ich beklagte und beklage ebenso wie Erich Honecker jeden – auch die Angehörigen der Grenztruppen der DDR –, der auf unnatürliche Weise im Zusammenhang mit dem Schutz der Staatsgrenze zu Schaden, zu Tode gekommen ist. Ich bekunde meinen Schmerz und mein Bedauern. Die Umstände sind der politischen Situation geschuldet, vor allem jener Versuche bestimmter Politiker in der BRD, die reale Existenz der Staatsgrenze zwischen den beiden Staaten zu ignorieren.

Heinz Keßler und Erich Honecker bei einem der ersten Umzüge der Berliner FDJ (1946)

Nach mehr als 18monatiger Haft, die politisch motiviert ist, werde ich zuweilen von Bekannten, Freunden, offiziellen Persönlichkeiten in der Regel mit wohlwollenden Absichten gefragt, wie es mir geht. Ich konnte und kann nur antworten: den Umständen entsprechend.

Im Folgenden einige dieser für mich wichtigen Umstände und damit korrespondierenden Fakten: Ich stehe als Antifaschist, der Sozialist, Kommunist wurde, vor diesem Gericht. Einem Justizorgan eines Staates, der ein anderer ist als der, in dem ich politisch gewirkt habe. Eines Staates, der sich anschickt, über den ehemals weltweit anerkannten Staat DDR zu Gericht zu sitzen. Er will über die von der Legislative der DDR beschlossenen Gesetze und deren Bürger, die diesen Gesetzen verpflichtet waren, befinden. Ein Novum in der Politik und Rechtsgeschichte, wie von nicht wenigen in- und ausländischen Experten festgestellt wurde.

Armeegeneral Heinz Keßler war
Verteidigungsminister der DDR.

Zur Person: Ich komme aus einem politisch aktiven, kommunistisch orientierten Elternhaus. Die von mir hochverehrte Mutter und der hochverehrte Vater mußten die Hölle des Faschismus, seiner Gefängnisse, Konzentrationslager und Strafbataillone mit all ihrem unmenschlichen Terror über sich ergehen lassen. Warum? Sie kämpften für Deutschland gegen das Hitler-Regime und dessen völkermordenden Krieg. Ich habe es erlebt, bin ein Zeitzeuge dafür, wie die Schergen des Nazismus Kommunisten, Sozialdemokraten, bürgerliche Demokraten und jüdische Bürger verfolgten, quälten und oft – unseren Augen entzogen – vernichteten.

Dies alles prägte von früher Jugend an meinen Lebensweg, den ich nie verlassen habe. Er führte mich in die Reihen derer, die für Deutschland gegen das Hitler-Regime und dessen Aggressionskriege kämpften. Dafür wurde ich wie viele andere von den Justizorganen des Hitler-Staates zum Tode verurteilt. Es drängt sich mir oft die bange Frage auf, was hätten Justiz, Gestapo und Wehrmacht mit mir gemacht, wenn sie meiner habhaft geworden wären? Die Antwort liegt auf der Hand.

Heinz Keßler und Generaloberst a. D. Fritz Streletz vor dem Moabiter Gerichtsgebäude

Es gab in jüngster Zeit indirekte Hinweise, ich sollte von meiner Überzeugung ablassen. Es könnte von Vorteil sein. Ich halte es für meine Pflicht, hier, an dieser Stelle, zu erklären, daß ich solches Ansinnen für absurd halte, daß das zugleich für all jene, die ihr Leben für die Würde unseres Volkes, für den Erhalt und den Bestand unseres Vaterlandes geben mußten, eine Verhöhnung ist. Wenn ich nicht seit vielen Jahren Antifaschist wäre, so wäre ich es heute in Deutschland geworden, wie es viele andere Demokraten in den letzten Monaten, Wochen, Tagen geworden sind. Die widerwärtigen, gefährlichen Umtriebe der Neo-Nazis lassen keine andere Wahl.

Seit einiger Zeit geht das erfundene Wortgebilde vom „verordneten Antifaschismus“ in der DDR um.

Aus einer „Stern“-Übersicht geht hervor, daß gegenwärtig auch in der BRD von vielen Seiten nach neuen Gesetzen und Verordnungen gerufen wird, um de Neonazis wirkungsvoll begegnen zu können. Für das spätere Staatsgebiet der DDR wurden die ersten notwendigen Befehle zur Überwindung des geistigen und materiellen Erbes des Nazismus auf der Grundlage der Potsdamer Beschlüsse von der Sowjetarmee erlassen und durchgesetzt. Das Wichtigste aber war und ist die geistige Auseinandersetzung mit der Theorie und der Politik des Nazismus. Mit vielen anderen Antifaschisten habe ich hier in Berlin an diesem schweren, komplizierten Prozeß teilgenommen.

Heinz Keßler vor einem Bild Walter Womackas in seiner Karlshorster Wohnung

Ein Beispiel: Es war nicht einfach zu klären, warum die Oder-Neiße-Linie fortan die Staatsgrenze zu unserem östlichen Nachbarn Polen sein würde. Wie wurden wir beschimpft, beleidigt, Vaterlandsverräter gescholten. Auch von Personen, die später hohe Funktionen in der BRD bekleideten. Bekanntlich hat die DDR sehr früh diese Grenze als Friedensgrenze anerkannt. Was würden wohl die Politiker von heute sagen, wenn sie mit ähnlichen Attributen belegt würden.

Ich gehöre zu den Millionen Bürgern, die unter äußerst komplizierten politischen und materiellen Bedingungen mitwirkten, um auf dem vom Haupterbe des Faschismus geräumten Boden etwas zu schaffen, was die Wiederholung von Krieg und Faschismus ein für alle Mal ausschloß. Es ist unbestritten, daß die Bürger der DDR mit Unterstützung der Völkergemeinschaft durch harte Arbeit dazu einen beachtlichen Beitrag leisteten. Wir sind bei den gegebenen Voraussetzungen nicht sehr reich geworden, aber es war ein Wirken, das den Bürgern der DDR internationale Anerkennung einbrachte. Der Lebensstandard war in vielem gesicherter als in der übergroßen Mehrheit der Länder mit anderen gesellschaftlichen Strukturen. Wegen meines Wirkens als Bürger der DDR wurde ich verhaftet, bin ich in Untersuchungshaft, sitze ich hier in diesem Saal und soll mich vor diesem Gericht der BRD verteidigen.

Wir Bürger der DDR waren und blieben Suchende, Lernende im Prozeß des Aufbaus einer neuen sozialen Ordnung. Dabei sind uns Fehler unterlaufen auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet. Ich bekenne mich zu dem, was geleistet wurde und was uns durch eigene Fehler und Unzulänglichkeiten nicht gelungen ist. Zu den Umständen gehört es folglich auch, daß ich mit vielen anderen Bürgern der DDR Angehöriger der Streitkräfte wurde. Das war eine Folge der Bewaffnung der BRD. Im Leben und in der Politik spielt die Reihenfolge oft eine wichtige Rolle. Erst bewaffnete sich die BRD und dann die DDR. Erst Bundeswehr und danach NVA. Wie überhaupt die Gründung der DDR erst nach der durch die mit der Bildung der BRD abgeschlossenen Spaltung erfolgte.

In verschiedenen Dienststellungen war ich in der NVA bemüht, antifaschistisches Denken und Handeln zu fördern. Es galt, die Verpflichtung zu erfüllen, gemäß der Verfassung und den Gesetzen der DDR, eingebunden in das System des Warschauer Vertrages, die Sicherheit und die Unantastbarkeit der Hoheitsrechte zu gewährleisten. Meine Tätigkeit als Minister für Nationale Verteidigung, die annähernd vier Jahre währte, unterlag den gleichen Kriterien.

Ich gehörte längere Zeit dem Verfassungsorgan der DDR, dem Nationalen Verteidigungsrat an. Es muß festgestellt werden, daß es analoge und ähnliche Staatsorgane in vielen Ländern gab und gibt – auch in der BRD –, es sich also um keine Besonderheit der DDR handelt. In dieser Eigenschaft habe ich mitberaten und beschlossen, was für den Schutz und die Verteidigung notwendig war. Dies geschah auf der Basis der Verfassung der DDR, unter Berücksichtigung der politischen und militärischen Konstellationen.

Zu den Umständen gehört auch die historisch herangereifte Notwendigkeit der Gründung des Warschauer Vertrages. Die Tatsache, daß die DDR Mitglied dieses Paktes wurde, nachdem die BRD der NATO beigetreten war, brachte es mit sich, daß die Schutz- und Verteidigungsinteressen der einzelnen Staaten mit denen der Gemeinschaft, wenn geographisch auch differenziert, identisch waren. Keine bedeutende Maßnahme in den Mitgliedsstaaten ist ohne Beratung und entsprechende Beschlüsse in den Organen des Warschauer Vertrages durchgeführt worden. Das traf insbesondere für die DDR zu. Die Staatsgrenze zwischen der DDR und der Bundesrepublik war objektiv zugleich die Grenze zwischen den beiden Bündnissen Warschauer Vertrag und NATO. Alle entscheidenden Maßnahmen an dieser sensiblen, für die Erhaltung des Friedens bedeutenden Staatsgrenze waren infolgedessen Gegenstand der Aufmerksamkeit der Organe des Warschauer Vertrages, besonders seines wichtigsten Organs, des Politischen Beratenden Ausschusses, in dem die Ersten Sekretäre bzw. Generalsekretäre den entscheidenden Einfluß ausübten. Die DDR war aufgrund ihrer geographischen Lage ein wichtiger, aber nicht der wichtigste Staat. Es gehört zu den nicht zu übersehenden Umständen, daß auf dem Territorium der DDR eine der qualitativ und quantitativ bedeutendsten Gruppierungen der sowjetischen Streitkräfte stationiert war. Diese war zugleich Bestandteil des Oberkommandos des Warschauer Vertrages. Infolge dieser verständlichen Verflechtung konnte auf dem Territorium der DDR keine Sicherheits- und Verteidigungsmaßnahme geplant und durchgeführt werden, die nicht in Übereinstimmung mit dem Oberkommando dieser Gruppierung stand. Alle gemeinsam konzipierten Maßnahmen zur Sicherung der Staatsgrenze der DDR zur Bundesrepublik hatten zwei Aufgaben zu erfüllen: Vereitelung aggressiver Handlungen und möglicher Angriffe von jenseits der Staatsgrenze und Maßnahmen gegen die Verletzung der Staatsgrenze vom Territorium der DDR aus.

Im Grundlagenvertrag zwischen der BRD und der DDR vom 21. Dezember 1972 heißt es im Artikel 6, daß sich die Hoheitsgewalt jeder der beiden Seiten auf ihr Staatsgebiet beschränkt! Es wird dort auch zum Ausdruck gebracht, daß sich beide Seiten verpflichten, die Unverletzlichkeit ihrer Grenzen als eine entscheidende Voraussetzung für die gedeihliche Entwicklung aller übrigen Seiten ihrer Beziehung zu gewährleisten. Die BRD hatte in einem recht frühen Stadium völkerrechtlich anerkannt, daß es sich nicht, wie in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft formuliert, bei der Grenze zwischen der DDR und der BRD um eine innerdeutsche Grenze, sondern um die Staatsgrenze zweier Völkerrechtssubjekte gehandelt hat. Alle Maßnahmen und Veränderungen bezüglich der Staatsgrenze der DDR vollzogen sich in Erfüllung auch von Bündnisverpflichtungen in Übereinstimmung mit der Verfassung und den Gesetzen der DDR. Das bedeutet, die Angehörigen der Grenztruppen der DDR und ihre Vorgesetzten haben in Übereinstimmung mit den Gesetzen der DDR und den auf ihnen fußenden Vorschriften gehandelt. Das gilt auch für die Schußwaffengebrauchsbestimmungen, die – wie ein sachlicher Vergleich zeigt – denen anderer Staaten, so auch denen der BRD ähnlich oder gleich sind.

Es muß bemerkt werden, daß die DDR für das an dieser Staatsgrenze bestehende Regime in der UNO zu keiner Zeit irgendwelchen Diskriminierungen ausgesetzt war. Ihre Autorität in dieser Weltgemeinschaft war groß und ungebrochen.

Andere Staaten hatten und haben an ihren Staatsgrenzen ähnliche Ordnungen. Es ist mit den Normen des Völkerrechts unvereinbar, über die DDR und die Personengruppen, die ihr gedient haben, im nachhinein durch einen anderen Staat zu befinden und die DDR und Bürger dieses Staates, die nach deren Gesetzen gehandelt haben, zu kriminalisieren. Es könnte die Frage entstehen, ob man zum gegebenen Zeitpunkt so auch mit der nicht mehr existierenden Sowjetunion und Personengruppen dieses Landes verfahren will. Es war also rechtens, wie sachliche Betrachtungen belegen, daß die Angehörigen der Grenztruppen und ihre Vorgesetzten entsprechend den Gesetzen der DDR ihre Pflichten erfüllten. Es muß in diesem Zusammenhang darauf verwiesen werden, daß niemand direkt oder durch Vorspiegelung falscher Tatsachen veranlaßt wurde, das sichtbar gekennzeichnete militärische Sperrgebiet an der Staatsgrenze der DDR zu betreten, ungesetzlich in dieses einzudringen und sich in eine selbst heraufbeschworene Gefahr zu begeben.

Kein Angehöriger der Grenztruppen konnte wissen, wer und was verbirgt sich hinter dem Grenzverletzer. Es konnten Menschen sein, die Gesetze verletzt haben, die Zoll- und Devisenbestimmungen, Rauschgiftbestimmungen übergehen wollten. Es gab, wie bekannt ist, auch hinterhältige Anschläge auf Angehörige der Grenztruppen, Anschläge, die zum Teil von langer Hand und durch Bürger und Einrichtungen der BRD und Westberlins organisiert wurden.

Ich erkläre, daß ich zu keinem Zeitpunkt Weisungen gegeben habe, die im Widerspruch zur Verfassung und den Gesetzen der DDR standen. Für das Handeln aller Beteiligten, also auch für die Grenzverletzer, habe ich keine Veranlassung gegeben. Ich betrachte diese Behauptung als eine Unterstellung. Die mir in der Anklageschrift angelasteten Beschuldigungen weise ich entschieden zurück.

Die aus militärischen Gründen geschaffenen Minenfelder, die in den 40er und 50er Jahren von den sowjetischen Besatzungstruppen angelegt wurden, sind während meiner Amtszeit als Minister vollständig liquidiert worden. Übrigens auf Beschluß des Verteidigungsrates und Weisung seines Vorsitzenden.

Zum Schluß meiner Einlassung stelle ich nochmals ausdrücklich fest: Die noch immer andauernde Untersuchungshaft und das Verfahren selbst sind nach meiner Auffassung politisch motiviert. Politische Wertungen müssen diskutiert werden. Einer solchen politischen Auseinandersetzung will ich mich stellen und entsprechend meinen Kenntnissen und meiner politischen Verantwortung an ihr mitwirken.

Ich erkläre mit Nachdruck: Ich habe keine der mir im Sinne der verlesenen Anklageschrift vorgeworfenen Taten begangen. Was immer verhandelt und entschieden wird, werde ich auch weiter am Kampf all derer teilnehmen, die entschieden für die Zurückdrängung von Neonazismus, Rassismus und Völkerfeindschaft kämpfen. Mein Dank gilt allen, die für mich Verständnis haben und mir solidarische Hilfe erweisen.