RotFuchs 213 – Oktober 2015

Horst Sindermann –
Zeuge des Jahrhunderts

Egon Krenz

Zum 100. Geburtstag von Horst Sindermann am 5. September 2015 ist bei edition ost sein autobiographisches Buch „Vor Tageslicht“ erschienen. 1988/89 schrieb er sich vom Herzen, was seit Jahrzehnten in ihm ruhte. Es sind die Erlebnisse der Jahre von 1933 bis 1945, von denen er selbst meinte, sie waren „Wanderjahre zwischen Gitterstäben, Stacheldraht und Mauern“.

Nachdem ich das Manuskript gelesen hatte, war ich aufgewühlt, fragte mich, wie charakterfest und stark ein Mensch sein muß, wie edel seine Ideale, daß er fast zwölf Jahre Haft und Folter der Nazibarbaren aushält, ohne seine Überzeugungen aufzugeben. Gleichzeitig stieg Zorn in mir auf, daß hierzulande Biographien von Kommunisten – pauschal mit dem Zensurstempel „stalinistisch“ versehen – vom politischen Mainstream aus der Geschichte verbannt werden. Sindermanns Erinnerungen sind ein lebendiges Zeugnis des humanistischen Handelns von Antifaschisten mit kommunistischer Gesinnung. Wer sich damit vertraut macht, darf nicht zulassen, daß die kommunistische Linie der Arbeiterbewegung diskreditiert wird. Sie verdient es, als untrennbarer Teil der deutschen Geschichte verteidigt zu werden.

Horst Sindermann wird in Halle-Neustadt herzlich willkommen geheißen.

Sindermann ist ein kompetenter Zeuge des 20. Jahrhunderts. Als 18jähriger wurde er im Juni 1933 das erste Mal verhaftet, weil er sich ebenso wie seine zwei Brüder und seine Schwester am Widerstand gegen die faschistische Diktatur beteiligt hatte. Von den zwölf Jahren der Naziherrschaft verbrachte er allein sechs in Einzelhaft im Zuchthaus Waldheim. Darauf folgte das KZ Sachsenhausen. Mitgefangene berichteten, daß er dort unter Einsatz des eigenen Lebens Nahrungsmittel für Kameraden beschaffte, um sie vor dem Verhungern zu retten. Auf Sachsenhausen folgten das KZ Mauthausen und das über Jahrzehnte in Österreich wie in Deutschland mit Schweigen übergangene KZ Ebensee. Historiker beschreiben es als „Hunger- und Sterbelager“. Hier erlebt Sindermann den Sieg der Antihitlerkoalition. Der 8. Mai 1945 wird für ihn zum Tag der Befreiung.

Sieben Jahrzehnte danach hielten es weder Bundespräsident noch Kanzlerin für geboten, der Tradition von Richard von Weizsäcker zu folgen und im Deutschen Bundestag der Befreiung Deutschlands vom Faschismus zu gedenken. Sie delegierten dies an den emeritierten Geschichtsprofessor Winkler. Wer erwartet hatte, daß er den Beitrag der deutschen Arbeiterbewegung zur Niederlage des Faschismus würdigt, wurde bitter enttäuscht. Die Ermordung und Inhaftierung von Kommunisten und Sozialdemokraten findet bei ihm in der Benennung der Naziopfer keine Beachtung. Dagegen schwadronierte er: „Zwölf Jahre lang hatten die Nationalsozialisten frenetisch die nationale Einheit der Deutschen beschworen.“ Haben die Nazis mit ihrem Rassenwahn und ihrer Verfolgung jeder antifaschistischen Regung in Wirklichkeit nicht gerade die Nation tief gespalten? Horst Sindermann und seine SS-Lagerführer waren Deutsche: die einen Schinder und Mörder – der andere Patriot und Internationalist. Eine Einheit zwischen ihnen gab es nie. Als Jungkommunist notierte Sindermann, er sei „frei von blöder Deutschtümelei eines beschränkten Bürgertums, aber auch frei von jeder Enge des Denkens“.

Die Biographie Sindermanns ist eine Mahnung: Es darf nicht vergessen werden, daß von den rund 300 000 Mitgliedern, welche die KPD im Jahr 1933 zählte, 150 000 von den Nazis verfolgt oder in Konzentrationslager verschleppt wurden. Zehntausende Mitglieder der KPD wurden ermordet. Von den 519 Delegierten des Nachkriegsparteitages der KPD waren 3 Genossen zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt, 141 Teilnehmer hatten zusammen 831 Jahre Zuchthaus, 64 Delegierte saßen 132 Jahre im Gefängnis, 215 Delegierte waren zusammen 637 Jahre in Konzentrationslagern. Solche Tatsachen sollen nach dem Willen der heute Herrschenden den nachwachsenden Generationen verborgen bleiben, weil ihnen sonst die absurde antikommunistische Behauptung von der DDR als zweiter deutscher Diktatur, die nahtlos aus der ersten hervorgegangen sein soll, nicht klarzumachen wäre.

Sindermann kam im Sommer 1945 nach langem Fußmarsch aus Österreich in seine Heimatstadt Dresden. Ohne Schul- oder Berufsabschluß. Dennoch berief ihn seine Partei zum Chefredakteur ihrer „Sächsischen Volkszeitung“. Nie zuvor hatte er in einer Redaktion gearbeitet, geschweige denn eine geleitet. Jahre später wurde er gefragt, wie er mit der Aufgabe fertig geworden sei. Er antwortete: „Als ich mich beim damaligen sächsischen KPD-Vorsitzenden Hermann Matern arbeitssuchend meldete, fragte er nach meinem Vater. Der sei doch Redakteur gewesen, also liege die journalistische Begabung in der Familie: ‚So etwas vererbt sich.‘ Auf diese Weise wurde ich Chefredakteur.“

Obwohl Sindermann keine Universität besucht hatte, war er hoch gebildet, kannte sich in Geschichte, Literatur und Kunst aus. Seine kommunistischen Ideale, seine menschliche Ausstrahlung und Lernbereitschaft befähigten ihn für Leitungsaufgaben in der SED. Mit 32 Jahren wird er 1. Kreissekretär in Chemnitz und wenig später in Leipzig. In dieser Stadt ist seine Wohnung auch die Unterkunft für Besucher aus Berlin. Wenn sie in Leipzig zu tun hatten, übernachteten Wilhelm Pieck, Otto Grotewohl und Walter Ulbricht bei den Sindermanns. Zeit für viele Gespräche, bei denen die führenden Genossen das politische Talent ihres jüngeren Weggefährten schätzen lernten.

Von 1954 bis 1963 leitete er die Agitationsabteilung im Zentralkomitee. In dieser Zeit begegnete ich ihm das erste Mal. Es war 1959 auf einem Zeltplatz auf der Insel Rügen. Weit über 1000 Schüler und Studenten waren zu einem Jugendforum mit ihm gekommen. Kaum, daß ich den Gast begrüßt hatte, beklagte ein Teilnehmer, man wolle ihn wegen seines Bartes und seiner langen Haare aus der SED ausschließen. Sindermann darauf: „Wir müßten dann ja auch Walter Ulbricht ausschließen und uns von Marx, Engels und Lenin trennen. Sie sind ja auch Bärtige. Nicht, was man auf dem Kopf hat, ist wichtig. Entscheidend ist, was man im Kopf hat.“

Sindermann war wegen seiner undogmatischen Denkweise ein streitbarer Gesprächspartner bei jung und alt. Vor allem stand er stets zu seinem Wort. Kurz vor seinem Tod warf ihm ein Journalist aus der alten Bundesrepublik vor: „Sie kamen damals (1961) auf das Wort vom Antifaschistischen Schutzwall.“ Sindermann bekannte: „Ja. Wir wollten nicht ausbluten, wir wollten die antifaschistisch-demokratische Ordnung, die es in der DDR gab, erhalten. Insofern halte ich meinen Begriff auch heute noch für richtig.“

1963 wurde der inzwischen zum Politbüromitglied Aufgestiegene als 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Halle gewählt. Die dortigen Jahre waren seine produktivsten. Für Halle-Neustadt legte er nicht nur den symbolischen Grundstein. Die Stadt wurde seine Lebensaufgabe. Bald hatten die Hallenser als Synonym für die Lösung schwieriger Aufgaben den Slogan erfunden: „Sindermann macht’s möglich!“

In der Wohnung der Sindermanns waren die Türen für Schauspieler, Maler, Musiker und Schriftsteller weit geöffnet. Sie holten sich Rat bei ihm, und er beriet sich mit ihnen. Irgendwann in seiner Anfangszeit als Chefredakteur der „Freiheit“ hatte er sich negativ zum Schaffen von Willi Sitte geäußert. Je mehr er sich jedoch mit dessen Kunst auseinandersetzte, begriff er, daß sich ein Parteifunktionär nicht in künstlerische Schaffensfragen einmischen sollte. Eines Abends stand er vor Sittes Haus in Halle, bat um Einlaß und entschuldigte sich für sein unsachgemäßes Urteil. Das war der Beginn einer Freundschaft zwischen zwei starken Persönlichkeiten – einem Politiker und einem bedeutenden Künstler der DDR. Sindermanns Kunstverständnis trug oft dazu bei, das manchmal belastete Verhältnis von Politikern und Kulturschaffenden zu entspannen.

Als auf Initiative des Leipziger Parteisekretärs Paul Fröhlich gegen den Film „Spur der Steine“ Front gemacht wurde, fühlte sich Sindermann selbst angegriffen. Die realistische Darstellung des Geschehens im Film entsprach seinem lebensverbundenen Politikstil. Ihn verband mit Erik Neutsch, dem Autor des Romans, der mit einer Auflage von 500 000 Exemplaren eines der meistgelesenen Bücher in der DDR war, eine langjährige Freundschaft. Neutsch beschreibt später, wie sich Sindermann verhielt, nachdem der Film in anderen Bezirken vom Spielplan genommen worden war: „… der Film (wurde) in Halle eine Woche lang wie üblich, ohne den ‚von oben‘ provozierten Radau, … gezeigt“. Man konnte in der DDR durchaus gegen den Strom dogmatischer Entscheidungen schwimmen, wenn man genug Mumm und vor allem genügend Sachkenntnis hatte.

1971 kommt Sindermann als Erster Stellvertreter des DDR-Ministerpräsidenten nach Berlin zurück. Während Willi Stoph 1973 den Vorsitz im Staatsrat übernimmt, wird Sindermann Regierungschef. Wer ihm im In- und Ausland begegnete, erlebte ihn als einen klugen und bescheidenen Menschen, mit dem man gut reden, dem man sich anvertrauen konnte. Freundlichkeit, Offenheit, rhetorisches Talent und ein weithin unkonventionelles Herangehen an die Probleme des Alltags charakterisierten ihn.

Über den Wechsel Sindermanns 1976 vom Amt des Ministerpräsidenten zum Parlamentspräsidenten gibt es viele Gerüchte. Die Behauptung, er hätte gehen müssen, weil Honecker Staatsratsvorsitzender werden wollte, ist nicht korrekt. Richtig ist: Nach der Unterzeichnung der Schlußakte von Helsinki 1975 hieß es international oft: Nicht Partei-, sondern nur Staatschefs seien legitimiert, völkerrechtlich verbindliche Dokumente zu unterzeichnen. Breschnew informierte die DDR-Führung, daß er für sich diese Frage im Zusammenhang mit einer Verfassungsänderung 1977 entscheiden würde, und bat die Bündnispartner der UdSSR, dies in ihren Ländern schon früher zu tun. Mit diesem Rückenwind aus Moskau wurde Honecker 1976 auch Staatsratsvorsitzender.

Als Parlamentspräsident hatte Sindermann Hausrecht im Palast der Republik, dem Sitz der Volkskammer. Wiederholt gab es in dieser Zeit Vorschläge, das Gebäude – wie international üblich – mit einer Bannmeile zu versehen. Stets antwortete er: „Dies ist ein Palast des Volkes. Hier wird es keine Bannmeile geben.“ Bei seiner Gesinnungstreue zeichneten den Partei- und Staatsfunktionär analytisches Denken und Volksverbundenheit aus. Eine westdeutsche Zeitung nannte ihn schon vor mehr als einem halben Jahrhundert einen „hochintelligenten Sachsen“. Wenn es Friedrich Schorlemmer – eigentlich für ausgewogenere Urteile bekannt – jüngst in einem Gespräch mit Gregor Gysi für nötig hielt, die „Politbürokraten“ pauschal gröbster Dummheit zu bezichtigen, hat das nichts mehr mit Geschichtsanalyse zu tun. Mit Sätzen wie „Wenn diese Politbürokraten ein bedeutendes Wissen hätten haben können, dann dies: zu wissen, wie dumm sie sind“, wird auf dem Nullpunkt politischer und menschlicher Fairneß über Lebensleistungen geurteilt, die vom antifaschistischen Kampf bis zu komplizierten Gewissensentscheidungen im Kalten Krieg reichten. Daß Politiker auch Irrtümern und Fehlern unterliegen, daß ihre Entscheidungen hinter Forderungen der Zeit zurückbleiben können, ist allerdings nicht nur ein Phänomen der Vergangenheit, sondern auch der Gegenwart.

Ich bin sicher: Würde Horst Sindermann noch leben – er hätte im zweiten Teil seiner Erinnerungen sehr viel Intelligentes über die DDR geschrieben, über ihren geschichtlichen Platz genauso wie über das subjektive Versagen ihrer Führung. Auch über seine eigenen Fehler. Er hätte vermutlich analysiert, daß das Verschwinden der DDR von der politischen Landkarte viele Ursachen hat: nationale und internationale, innen- und außenpolitische, geschichtliche und aktuelle, politische und ökonomische, theoretische, ideologische, moralische, bündnispolitische und selbstverständlich auch menschliche Schwächen ihrer Oberen, herzloses Verhalten wie karrieristische Motive.

Nachdem der Präsident der Volkskammer im Oktober 1989 die Parlamentstagung geleitet hatte, die mich zum Staatsratsvorsitzenden wählte, umarmte er mich und sagte mit zitternder Stimme: „Ich wünsche Dir so sehr, daß Du Erfolg hast.“ Wir wußten damals beide noch nicht, daß es dafür längst zu spät war. Und er ahnte wohl auch nicht, daß Erich Honecker recht behalten sollte, als er einige Tage zuvor im Politbüro gesagt hatte: „Mit meiner Absetzung löst ihr kein Problem. Heute bin ich es, morgen seid ihr es.“ Seine eigene Grundstimmung drückte Sindermann so aus: „Mir ist im Moment, als rutschten 40 Jahre Sozialismus plötzlich unter unseren Füßen weg.“ Niemals aber zweifelte er daran, daß jene Gesellschaft, deren Mitgestaltung er sein Leben gewidmet hatte, die einzige Möglichkeit für ein dauerhaft friedliches Leben der Menschheit sein kann.

Wohl auch deshalb wollte er der Forderung nach seinem Rücktritt aus dem Zentralkomitee nicht folgen. Es widersprach seinem Naturell, hinzuschmeißen, wenn die Sache, die er vertrat, in Gefahr war. Als ich ihn wegen der politischen Situation dennoch bat, den Weg für Jüngere frei zu machen, reagierte er verärgert: „Ich bin von einem Parteitag gewählt, ich weiche auch nur einem Parteitag.“ Das entsprach seiner kampfgeprägten Biographie, doch die hatten damals viele in der eigenen Partei inzwischen vergessen. Emotionen verdrängten Leistungen. Das von einem Parteitag gewählte Zentralkomitee lief am 3. Dezember 1989 unwürdig auseinander.

Am gleichen Tag wurde Horst Sindermann aus der SED ausgeschlossen. Das hat ihn zutiefst verletzt. Er, der mit 14 Jahren als Tertianer des Dürer-Gymnasiums in Dresden Mitglied des Kommunistischen Jugendverbandes geworden war und sich fortan als Kommunist verstand, wurde aus einer Gemeinschaft ausgestoßen, die für ihn seine politische Heimat bildete. Das hat er nicht verkraftet. Und dann noch das: Wie ein Krimineller wurde er abgeführt, kam in Untersuchungshaft. Noch gab es eine DDR-Regierung und DDR-Justizorgane. Von einstigen Weggefährten eingekerkert zu werden, ist wesentlich demütigender als vom politischen Feind. Da ihm Kriminelles nicht nachgewiesen werden konnte, mußte er schon kurze Zeit später aus der Haft entlassen werden.

Die erlittenen Erniedrigungen hatten seine Gesundheit schwer geschädigt. Er starb am 20. April 1990. Seine Erinnerungen sind nicht nur lesenswert. Sie sind ein Zeitdokument des Kampfes und des Leidens deutscher Antifaschisten.

Horst Sindermann:

Vor Tageslicht
Autobiografie
Vorwort von Egon Krenz

edition ost, Eulenspiegel-Verlagsgruppe, Berlin 2015
224 Seiten, ISBN 978-3360-01871-7

17,99 €