RotFuchs 215 – Dezember 2015

„Ich würde nie mehr
an den falschen Stellen ,Hurra!‘ rufen“

Oberst a.D. Horst Nörenberg

Von Lenin habe ich gelernt: Es gibt keine Macht der Welt, die uns zerstört, außer wir tun es selbst.

Nicht der Sozialismus ist gescheitert, sondern die Politik des Weges dorthin hat Schiffbruch erlitten. Alle wichtigen Beschlüsse der DDR wurden von der Partei gefaßt. Die Volkskammer war ein reines Abstimmorgan, aber keine sozialistische Volksvertretung. Dafür spricht auch die Tatsache, daß Erich Honecker nur ein einziges Mal vor dem Hohen Haus gesprochen hat: seine Eidesformel.

Fidel Castro schreibt: „Revolution – das ist als Mensch behandelt zu werden und andere als Menschen zu behandeln, weder zu lügen noch ethische Prinzipien zu verletzen.“

Haben wir das immer eingehalten? Klar: Für Feinde gibt es keinen Pardon. Nur – haben wir nicht viele, die keine waren, uns erst zu Feinden gemacht? Es gab ein gespaltenes Verhältnis zum gesunden Meinungsstreit und eine Neigung zum Dogmatismus. Hinzu kam das Problem der persönlichen Macht: Der demokratische Zentralismus entartete immer mehr zum Prinzip der Einzelführung. So wurde aus der Diktatur des Proletariats allmählich die Diktatur der Partei und am Ende die der Parteiführung.

Nach Lenin gab es in der kommunistischen Bewegung wohl keine Autorität, die in den Machtkämpfen der Zeit hätte schlichten können. Die Führung der KPdSU war außerstande, sich auf einen Weg zum Sozialismus zu einigen – so wurden aus Kampfgefährten Todfeinde. Natürlich darf man nicht vergessen, daß die Bolschewiki hier die Pioniere gewesen sind.

Für Gorbatschow bleibt nur Häme.
Der Text zur Fotomontage auf dem Titelblatt
einer Moskauer Zeitschrift
lautet in freier Übersetzung:
Bester Deutscher! Haha! –
Nobelpreisträger! Hihi –
Mögen sie sich doch im Verein mit Jelzin
wegen der Vernichtung der UdSSR
überschlagen! Hoho!

Im Kern war der „Stalinismus“ ein stetiger Kampf um das Überleben der UdSSR – ein 70jähriger Krieg mit vielen Opfern. Lenin hatte gewarnt: „Wir fürchten eine übermä­ßige Ausdehnung der Partei, denn in eine Regierungspartei versuchen sich unver­meidlich Karrieristen und Gauner einzuschleichen, die nur verdienen, erschossen zu werden.“ (LW, Bd. 31, S. 32) Einige Historiker vermitteln ein sehr differenziertes Bild von Stalin und seiner Zeit, seinem Kampf für die Verteidigung der UdSSR gegen innere und äußere Feinde. Sie stehen damit im Gegensatz zur „Geheimrede“ Chruschtschows auf dem XX. Parteitag der KPdSU. Dabei hätte sich Stalin ohne die vielen Chruschtschows nicht 30 Jahre lang halten können. Mit Nikita Sergejewitsch begann die Entartung des Marxismus-Leninismus. Die „Entstalinisierung“ war ein Machtkampf in voller Härte, der mit Leninschen Parteiprinzipien nichts gemein hatte.

In der Breschnew-Ära wurde der ökonomische Niedergang der UdSSR eingeleitet, wobei die Entfremdung von der Realität auch auf die DDR übergriff. Leider wurde das große Potential der DDR an Gesellschaftswissenschaftlern nicht hinreichend zur Erarbeitung realistischer Analysen und Grundlagen für die Politik benutzt. Der VIII. Parteitag gab dann den Startschuß für die Verschiebung von der Akkumulation zur Konsumtion, was sich zum Schaden unserer Gesellschaft auswirkte. Wir haben verbraucht, was noch gar nicht erarbeitet worden war.

Die Doppelverantwortung von Partei- und Staatsorganen führte auf allen Ebenen zu Ineffizienz und Vergeudung von Arbeitskräften. Sie galt vom Rat des Kreises und der Kreisleitung der Partei bis zum Ministerrat und der Parteiführung. Der Wirtschafts­sekretär des ZK war weitaus mächtiger als die Wirtschaftsminister oder sogar der Ministerpräsident. Überall gab es diese Zweigleisigkeit. Hier sei Lenin zu Rate gezogen. Er schrieb: „Alle revolutionären Parteien, die bisher zugrunde gegangen sind, gingen daran zugrunde, daß sie überheblich wurden und nicht zu sehen vermochten, worin ihre Kraft lag, daß sie sich scheuten, von ihren Schwächen zu sprechen. Wir aber werden nicht zugrunde gehen, weil wir uns nicht scheuen, von unseren Schwächen zu sprechen, und es lernen werden, die Schwächen zu überwinden.“  (LW, Bd. 33, S. 297) Und: „Revolutionäre Parteien müssen stets zulernen.“ (LW, Bd. 31, S. 12) „Das Verhalten einer politischen Partei zu ihren Fehlern ist eines der wichtigsten und sichersten Kriterien für den Ernst einer Partei und für die tatsächliche Erfüllung ihrer Pflichten gegenüber ihrer Klasse und den werktätigen Massen.“ (LW, Bd. 31, S. 42)

Die DDR hat nie einen Krieg geführt. Wir haben gezeigt, daß es ohne Kapitalisten geht. Das ist unsere historische Leistung! Im Kalten Krieg, der sich jeden Augenblick in ein nukleares Inferno verwandeln konnte, kannte der Kampf der Feinde des Sozialismus gegen uns keine Grenzen. Das haben wir alle selbst erlebt.

Die DDR war die größte Errungenschaft der deutschen Arbeiterbewegung. An ihrem Anfang stand der ehrliche Glaube an eine glänzende Zukunft im Sozialismus. Vor allem die Jugend zeigte einen geradezu missionarischen Eifer. Es war eine Periode echter Begeisterung, fieberhafter Anstrengungen und freiwilliger Opfer.

Den Kalten Krieg hat zwar keiner gewonnen, doch in Europa ist nur der Kapitalismus übriggeblieben. Eines hat er seit 1990 überzeugend bewiesen: Er ist noch weniger als je zuvor imstande, die Lebensprobleme der Menschheit zu lösen, was die Notwendig­keit einer Alternative sichtbar macht.

Mit Lenin hatten wir das größte intellektuelle und politische Genie des 20. Jahrhun­derts. Mit Stalin – bei aller Tragik – ein strategisches Genie, das die Sowjetunion zum Sieg über den Faschismus führte.

Der erste Mensch im All war ein Kommunist, der erste Deutsche dort einer von uns. Die kommunistische Bewegung hat aber auch den übelsten Verräter des 20. Jahrhun­derts hervorgebracht: Gorbatschow. Er sorgte für den Niedergang eines marode gewordenen Systems, ohne die Grundlagen für ein neues zu schaffen. Er und seine Clique ebneten nicht nur den Weg für die Rückkehr zum Kapitalismus, sondern – und das ist noch schlimmer – zerstörten die Hoffnung der hungernden und ausgebeu­teten Völker der Welt. Diese Verantwortung wird auf Gorbatschow bis zum letzten seiner Tage lasten.

Von Gorki stammt der Satz: „Die wesentlichste Eigenschaft eines kultivierten Menschen sollte das Verantwortungsbewußtsein vor den Erben und Fortsetzern seiner Arbeit, den Kindern, sein.“ Werner Eberlein bemerkte dazu: „In diesem Punkt haben wir zweifellos versagt.“ Nach wie vor brauchen die Völker die Alternative. Einen diskreditierten Sozialismus kann man nur durch absolute Ehrlichkeit rehabilitieren.

Ich war dabei und bin stolz darauf. Ich würde es wieder tun, nur würde ich nie wieder an den falschen Stellen „Hurra!“ rufen.