RotFuchs 226 – November 2016

Im Zeichen des roten Sterns

Arnold Schölzel

Um 10 Uhr am Vormittag des 7. November 1917, am 25. Oktober des in Rußland noch gültigen julianischen Kalenders, wurde in Petrograd folgender Aufruf angeschlagen: „An die Bürger Rußlands! Die Provisorische Regierung ist gestürzt. Die Staatsmacht ist in die Hände des Organs des Petrograder Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten, des Revolutionären Militärkomitees, übergegangen. Die Sache, für die das Volk gekämpft hat: das sofortige Angebot eines demokratischen Friedens, die Aufhebung des Eigentums der Gutsbesitzer am Grund und Boden, die Arbeiterkontrolle über die Produktion, die Bildung einer Sowjetregierung – sie ist gesichert. Es lebe die Revolution der Arbeiter, Soldaten und Bauern!“ Der Aufruf wurde von der Funkstation des Kreuzers „Aurora“ verbreitet und noch am selben Tag in der bolschewistischen Zeitung „Rabotschi i Soldat“ (Arbeiter und Soldat) abgedruckt. Lenin, der ihn verfaßt hatte, war nach vier Monaten in der Illegalität wieder in der Stadt und trat am Nachmittag des Tages zum ersten Mal nach seiner Abwesenheit in der Öffentlichkeit auf, bei der außerordentlichen Sitzung des Petrograder Sowjets. In einer kurzen, mit stürmischem Beifall aufgenommenen Rede erklärte er die Bedeutung der Umwälzung. Sie bestehe darin, „daß wir eine Sowjetregierung, unser eigenes Machtorgan haben werden, ohne jegliche Teilnahme der Bourgeoisie“. Und dann: „Eine unserer nächsten Aufgaben besteht darin, sofort den Krieg zu beenden. Um aber diesen Krieg zu beenden, der mit der gegenwärtigen kapitalistischen Ordnung eng verknüpft ist, muß man  das Kapital selbst niederringen.“ Lenin sagte voraus: „Der gerechte, sofortige Frieden, den wir der internationalen Demokratie anbieten, wird überall unter den Massen des internationalen Proletariats leidenschaftlichen Widerhall finden.“

Am Abend des folgenden Tages erschien Lenin auf dem Zweiten Gesamtrussischen Kongreß der Sowjets der Arbeiter- und Bauerndeputierten, der am späten Abend des 7. November seine Tätigkeit ohne ihn aufnahm. Noch hatte der bewaffnete Aufstand nicht gesiegt. Lenins erstes Wort an diesem 8. November galt dem Frieden, der Beendigung des imperialistischen Gemetzels, das im August 1914 begonnen und bis dahin Millionen Menschen das Leben gekostet hatte. Er sagte: „Die Frage des Friedens ist die aktuellste, die alle bewegende Frage der Gegenwart“, und verlas das von ihm formulierte „Dekret über den Frieden“, das zur ersten Amtshandlung der Sowjetmacht wurde. Es war der Vorschlag an alle kriegführenden Völker und ihre Regierungen, „sofort Verhandlungen über einen gerechten demokratischen Frieden aufzunehmen“. Um 22.35 Uhr des 8. November 1917 forderte der Kongreßvorsitzende Lew Kamenew alle Delegierten, die mit der Proklamation einverstanden waren, auf, die Karten zu erheben. Der US-Journalist John Reed schilderte: „Ein Delegierter wagte es, dagegen zu stimmen, aber der plötzliche Ausbruch des Zorns um ihn herum ließ ihn die Hand schnell wieder herunternehmen. Und plötzlich, einem gemeinsamen Impuls folgend, hatten wir uns erhoben und sangen die Internationale.“ Danach begründete Lenin das „Dekret über den Boden“. Er wurde nach Jahrhunderten erstmals denen gegeben, die ihn bearbeiteten.

Wenn in einem Jahr, am 7. November 2017, die fortschrittliche Menschheit den 100. Jahrestag der Oktoberrevolution feiert, dann wird das welthistorische Dekret über den Frieden eine besondere Rolle spielen. Lenin hatte recht, als er vorhersagte, daß der Aufruf zum demokratischen Frieden eine ungeheure Wirkung haben werde. Die Sympathien für die russische Revolution speisten sich bis weit ins bürgerliche Lager – weit über die Arbeiterbewegung hinaus, unter Wissenschaftlern, Künstlern, Journalisten – aus diesem Vorschlag und seiner Verwirklichung. Die Revolution wurde, wenn man so will, von vielen Menschen auf der Welt als Friedensbewegung wahrgenommen, nicht zuletzt in den um ihre nationale Befreiung in den Kolonien Kämpfenden.

Frieden und Sozialismus bilden ebenso eine Einheit wie Kapitalismus und Krieg. Vom ersten Tag der russischen Revolution an drohte die innere und äußere Konterrevolution mit Gewalt und Intervention. Seit dem Ersten Weltkrieg war auch klar: Der Krieg gegen die Revolution wird ein Kolonial- und Vernichtungskrieg sein. Durch Krieg wurde sie letztlich bezwungen. Sie erholte sich im Grunde nie wirklich von den Zerstörungen und Verlusten des Zweiten Weltkriegs, sie unterlag in dem kalter Krieg genannten Kampf um Rüstung und Wohlstand. Seitdem spitzt sich die Weltlage zu. Die Zeit vom 99. bis zum 100. Jahrestag der Oktoberrevolution und des Dekrets über den Frieden verlangt mehr denn je, um diesen zu kämpfen. Und darüber aufzuklären, daß er letztlich ohne Sozialismus nicht auf Dauer zu haben ist.