RotFuchs 227 – Dezember 2016

Julij Kwizinski –
Zum Gedenken an den Freund

RotFuchs-Redaktion

Am 28. September 2016 wäre der herausragende Politiker und exzellente Diplomat der UdSSR und Rußlands Julij Alexandrowitsch Kwizinski 80 Jahre alt geworden.

Seine hervorragenden Fähigkeiten, seine Energie, ja sein ganzes Leben stellte Kwizinski in den Dienst der Verteidigung der Interessen unseres Landes.

Er war ein Patriot seines Vaterlandes. „Man darf sich nicht von seiner Geschichte und seiner Vergangenheit lossagen. Ein Volk ohne Vergangenheit wird auch keine Zukunft haben“, betonte er. „Daher setze ich dreimal meine Unterschrift unter die weise englische Regel: ,Right or wrong – my country‘ “ (Das ist mein Land, ob es recht hat oder nicht.)

Julij Kwizinski

Nach Absolvierung des Staatlichen Moskauer Instituts für Internationale Beziehungen (MGIMO) arbeitete er als Dolmetscher und persönlicher Referent beim UdSSR-Botschafter in der DDR Michail Georgijewitsch Perwuchin, was seinen Aufstieg auf diplomatischem Parkett einleitete.

„Ich bin überzeugt“, so betonte Kwizinski, „daß ein guter Diplomat nicht imstande ist, die Materie bis zu Ende zu begreifen, mit der er sich befassen muß, ohne mindestens über die Grundkenntnisse von der militärisch-strategischen Lage in der Welt sowie von den Finanz- und Wirtschaftsmechanismen, die diese Lage beeinflussen, zu verfügen. Sicher muß man auch über vieles anderes Bescheid wissen, aber ohne diese beiden oben erwähnten Elemente ist es schwer, seine eigene, wenn überhaupt eine Ansicht über Dinge zu haben.“

Die Sternstunde in der Laufbahn Kwizinskis als Diplomat fiel in die 60er Jahre, als die Leitung des Außenministeriums der UdSSR mit den Westmächten – den USA, Großbritannien und Frankreich – über Westberlin zu verhandeln begann, in einer gespannten Lage also, in der der Frieden in Europa in akuter Gefahr war. Damals wurde diese Stadt an der Nahtstelle zwischen den zwei militärischen Bündnissystemen „die billigste Atombombe“ genannt. Und Kwizinski wurde zu einem jener Pioniere, die diese Bombe entschärften. Worin lag das Geheimnis seines Erfolges? Es ist einerseits das bis ins Detail gehende gründliche Wissen um den Verhandlungsgegenstand – er hat mit einer Dissertation über Westberlin promoviert. Zum anderen ist es seine beharrliche Suche nach einer Lösung des Problems, bei dem es weder Sieger noch Besiegte geben darf.

Das im Ergebnis von einvernehmlichen Kompromissen erreichte Vierseitige Abkommen über Westberlin, das im Jahr 1971 unterzeichnet worden war, wurde zur ersten Nachkriegsvereinbarung zur deutschen Frage zwischen den Siegermächten im zweiten Weltkrieg.

Aber nicht nur die UdSSR, auch die USA, Großbritannien und Frankreich waren mit diesem Abkommen zufrieden. Es wurde ein Durchbruch zur Abschwächung der unerbittlichen Konfrontation zwischen DDR und BRD erreicht – zweifellos auch ein persönliches Verdienst Julij Kwizinskis. Dieses, sein erstes Auftreten am Verhandlungstisch war für westliche Diplomaten und Massenmedien eine Sensation. Ein junger sowjetischer Diplomat – 34 Jahre alt – beherrschte die Materie souverän. Gelegentlich nahm er sogar auf die Bibel Bezug, was bei westlichen Unterhändlern Verwunderung auslöste. Nein, so ist ein sowjetischer Kommunist?!

Kwizinski trat sicher und würdevoll auf, wie es dem Vertreter einer Großmacht zur Ehre gereicht, und zuweilen sogar dreist. Aber man nahm es ihm nicht übel. Im persönlichen Umgang war er ein interessanter, charmanter Gesprächspartner. Deutsch, Englisch, Spanisch, Französisch, Niederländisch und Norwegisch beherrschend führte er meisterhaft vertrauliche Gespräche. Er kannte deutsche Gedichte und Sprichwörter auswendig. Fragen der Abrüstung oder Heinrich Heine, das politische Kabarett in der DDR oder die Walpurgisnacht von Goethe – der sowjetische Botschafter fühlte sich auf dem politischen wie auf dem literarischen Parkett zu Hause und fürchtete nicht auszurutschen. Er sprach nicht nur fließend, sondern auch in einer bildhaften und an Redensarten reichen deutschen Sprache, daß man „vor Neid grün werden konnte“, was die westdeutsche Presse hervorzuheben wußte.

Der Sozialdemokrat Egon Bahr bestätigt auf seine Weise, was den sowjetischen Diplomaten auszeichnete: „… Die Kenntnis des Westens hat ihn kritisch gestimmt, aber nicht zu einem Abweichler gemacht. Kraft seines Intellekts hat er sich nicht den Illusionen in bezug auf den Westen hingegeben. Ich habe ihn als einen kernfesten Unterhändler erkannt, der alle Instrumente seines Gewerbes handfest beherrscht hat.“

Kwizinski war Hauptakteur bei den Genfer Verhandlungen mit den USA zur Abrüstung und Rüstungskontrolle Anfang der 80er Jahre. Als Botschafter in der BRD hat er nicht wenig für die Entwicklung der sowjetisch-westdeutschen Beziehungen getan.

Später wurde er als Botschafter nach Norwegen entsandt, das seit der Studentenzeit im MGIMO seine Phantasie besonders angeregt hatte. Ausgerechnet dort ging er in die Geschichte der Diplomatie als ein besonders erfolgreicher politischer Vertreter unseres Landes ein. Nach der Beendigung seiner Tätigkeit in Oslo wurde der Außerordentliche und Bevollmächtigte Botschafter der Russischen Föderation mit dem „Großen Kreuz des Verdienstordens des Königreichs Norwegen“ ausgezeichnet. In der gesamten Geschichte der diplomatischen Beziehungen zwischen beiden Ländern war das der zweite Fall der Würdigung eines Botschafters der UdSSR mit solch einer hohen Auszeichnung. Jahrzehnte vor ihm wurde mit dem gleichen Orden die berühmte Gesandte der Sowjetunion in Norwegen und erste akkreditierte Diplomatin weltweit Alexandra M. Kollontai ausgezeichnet. Seine diplomatische Karriere beendete Julij Alexandrowitsch im Amt des Ersten Stellvertretenden Außenministers.

Als sein persönliches Drama empfand Kwizinski den Zusammenbruch der Sowjetunion. Er war überzeugt, daß Rußland zur Idee der staatlichen Glorie, zu seinen traditionsgebundenen moralischen Werten und zu seiner Rolle auf der Weltbühne zurückkehrt. Das wichtigste sei, daß sich eine starke Führungspersönlichkeit findet, die den Willen und die Fähigkeit unter Beweis stellt, „uns aus der Wolfsgrube, in die wir hineingefahren waren, wieder hinauszuführen“.

Genauso schwer traf Kwizinski der Sturz der DDR. Er betonte, daß die DDR ein uns freundschaftlich verbundener Staat gewesen war, ein Ergebnis unseres schwersten Krieges, der unerhörtes Leid brachte und den wir mit Tränen in den Augen beendeten. Zusammen mit der DDR haben wir in all den Nachkriegsjahren dafür gekämpft, daß von deutschem Boden nie mehr die Gefahr eines Krieges ausgeht. Rußland und Deutschland, sagte er, müßten – geprägt durch die Geschichte – ein gemeinsames Interesse an gutnachbarschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Ländern haben, die auf Praktizismus und gegenseitig vorteilhaften Interessen fußen sollten. Während seiner gesamten diplomatischen Laufbahn ging Kwizinski davon aus, daß die Geschichte Europas immer von den russisch-deutschen Beziehungen abhängig war.

Nach der Beendigung der diplomatischen Karriere wurde er zum Abgeordneten der Staatsduma auf der zentralen KPRF-Liste gewählt. Julij Kwizinski ist Verfasser von sechs Büchern. Eines seiner Werke „Rußland – Deutschland. Erinnerungen an die Zukunft“ ist sein eigentliches geistiges Vermächtnis.

Er ist am 3. März 2010 nach einer tödlichen Krankheit aus dem Leben geschieden. In seinen letzten Tagen, die Qualen ignorierend, diktierte er noch nächste politische Artikel. Ein Kämpfer seinem Charakter nach, ein mutiger und willensstarker Mensch blieb er bis zum Ende auf dem Schlachtfeld. Im Gedächtnis der Freunde und Kollegen, seiner Mitstreiter war und bleibt er ein Staatsbürger und Patriot Rußlands, dem unser Land zu großem Dank verpflichtet ist.

Freunde und Kollegen, Moskau