RotFuchs 213 – Oktober 2015

Kein Anschluß unter dieser Nummer

Klaus Steiniger

Um gleich mit der Tür ins Haus zu fallen: Beim Thema „Anschluß“, das ja in diesem Monat wahre Kapriolen schlägt, kenne ich mich ein wenig aus. Gleich zweimal habe ich solche Situationen erlebt: 1933 wurde mein Vater, der spätere Völkerrechtler Peter Alfons St., wegen seines Einsatzes für die Rote Hilfe aus der Reichsanwaltskammer ausgeschlossen. 1935 folgte dieser Repressalie die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit, was auch für mich galt. Im selben Jahr verlieh uns die Tschechoslowakei die Rechte ihrer Staatsbürger. Doch die Freude über diesen temporären Schutz war nicht von langer Dauer: Dem Münchner Abkommen von 1938 folgten schon bald der Anschluß des Sudetengebiets und der deutsch-faschistische Einmarsch in das südöstliche Nachbarland. Aus einem durch Großbritannien und Frankreich preisgegebenen souveränen europäischen Staat wurde Hitlers, Himmlers und Heidrichs „Reichsprotektorat Böhmen und Mähren“, wobei man die Slowakei in einen pro forma „unabhängigen“ Satellitenstaat Nazideutschlands verwandelte.

Das zweite Mal verlor ich meine Staatsbürgerrechte durch den Anschluß der DDR an die BRD. Der beste Staat in der deutschen Geschichte wurde durch den selbsterklärten Nachfolgestaat des 3. Reiches annektiert. Wie später über die Griechen fiel damals die Treu und Glauben ächtende Treuhand der Kohl-Schäuble-Regierung über den deutschen Osten her, um das leider recht ungeschützte und nicht hinreichend im Bewußtsein der Massen verankerte Volkseigentum kapitalistischen Schnäppchenjägern in die Hände zu spielen oder gleich zu liquidieren.

Der zweite Anschluß war für mich noch schmerzlicher als der erste, den ich als Kind erlebt hatte, obwohl auch dieser diskriminierende Maßnahmen zur Folge hatte.

Doch es gibt gute Gründe, auf die Annexion der DDR am 3. Oktober 1990 – Monate zuvor war sie bereits wirtschaftlich und finanziell der BRD angeschlossen worden – mit nur einem Satz zu antworten: Kein Anschluß unter dieser Nummer!

Dabei sind wir natürlich weder lebensfremde Träumer noch Erbauer vom eigenen Willen entworfener Wolkenkuckucksheime, die ihre Wünsche mit den politischen Realitäten verwechseln. Ohne Zweifel hat die staatliche Existenz der DDR durch eine deren Untergang betreibende letzte Volkskammer-Mehrheit und Kohls Bonner Regie Anfang Oktober 1990 ihr Ende gefunden. Dazu trugen innere wie äußere Faktoren gleichermaßen bei: Da gab es – erstens – den enormen politisch-ökonomischen Druck des mit Washington aufs engste liierten und in der NATO tonangebenden reicheren Staates der deutschen Kapitalisten. Dieser traf – zweitens – mit dem Untergang einer sich im Verlauf von Jahrzehnten sukzessive zersetzenden Sowjetunion sowie dem Finale des RGW und des Warschauer Paktes zusammen. Hinzu kam – drittens – ein subjektiver Faktor, der für die DDR nicht ungünstiger hätte sein können: Sie war in der Stunde der größten Not nahezu führerlos. Während der erste Mann im Staate und der Partei – er bewies später vor dem Gericht seiner Feinde ein hohes Maß an Würde – schwerstens erkrankt und dann frisch operiert war, hatte man überdies auch noch weitere DDR-Spitzenpolitiker entweder in Urlaub oder ins Ausland geschickt. Die führungsmäßig nahezu verwaiste Partei aber wurde in dieser Krise auf Tod und Leben einem Günter Mittag anvertraut. Und an der Spitze der in jenen Tagen entscheidenden Berliner Parteiorganisation stand der spätere Grenztoreöffner Günter Schabowski.

Der Untergang der DDR und ihre darauf folgende Einverleibung in den imperialistischen deutschen Staat waren nicht nur die schwerste Niederlage der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung, sondern auch ein Schlag gegen alle Friedenskräfte zwischen Oder und Rhein.

Schon vor 15 Jahren haben wir die Vorgeschichte des fälschlicherweise als „Wiedervereinigung Deutschlands“ dargestellten Geschehens nach dem 18. März 1990 im RF als Konterrevolution bezeichnet. Eine vier Jahrzehnte bestehende fortgeschrittenere Gesellschaftsformation wurde durch eine historisch bereits überholte Ordnung „ersetzt“. An negativen Wendepunkten hat es im Verlauf der Menschheitsgeschichte nicht gefehlt – doch die Zerstörung der Saat des Roten Oktober und nahezu aller mit der UdSSR verbunden gewesener sozialistischer Staaten Europas und Asiens war der bisher heftigste Rückschlag. Als wir die DDR – ebenfalls im RF – schon vor etlichen Jahren als „größte Errungenschaft in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“ bezeichneten, führte uns nicht lebensferner Hochmut die Feder. Die Tatsache, daß im östlichen Drittel Deutschlands dem Kapital für die Dauer von vier Jahrzehnten dessen der Ausbeutung dienendes Eigentum an den Produktionsmitteln und die politische Macht entzogen wurden, rechtfertigt diesen Superlativ.

Man sollte Schätze der Vergangenheit nicht deshalb kleiner zu machen bestrebt sein, weil es den Gegnern des Neuen gelungen ist, zeitweiligen Siegern Errungenes wieder zu entreißen. Geschichtliche Prozesse sind stets nüchtern und realistisch zu bewerten. So gab es zum Beispiel in der UdSSR und in der DDR Politiker, die der Illusion erlagen, lebende Generationen würden schon den Kommunismus erfahren. Inzwischen wissen wir, daß ein vollständiger Formationswechsel – beispielsweise vom Feudalismus zum Kapitalismus – bisher Jahrhunderte in Anspruch genommen hat und noch nicht einmal abgeschlossen ist. Mit dem Kapitalismus ist deshalb weniger Zeit zu verlieren, weil er die Menschheit durch seine Kriege dem Untergang entgegentreibt. Doch subjektivistisches Forcieren-Wollen geschichtlicher Prozesse bei Fehlen der notwendigen objektiven wie subjektiven Voraussetzungen ist wie ein Ruf in der Wüste. Genausowenig hat es mit politischer Strategie zu tun, sich bietende revolutionäre Chancen nicht zu nutzen.

Für uns, die wir auf der linken Seite der Barrikade des Klassenkampfes stehen, gibt es keinen Grund, sich ins Bockshorn jagen zu lassen und die Fahne einzurollen. Wir alle kennen das Wort: Totgesagte leben länger.

Mögen sie ihre Feste aus Anlaß der Einverleibung der DDR und der Ausweitung des NATO-Diktats auf ganz Deutschland feiern. Für uns bleibt es dabei: Wir kriechen weder heute noch morgen unter die Schwingen ihres Bundesadlers. Den in der BRD und leider auch schon in fast ganz Europa den Ton angebenden deutschen Imperialisten um Gauck und Merkel aber sei gesagt: Wir stehen ungeachtet des Debakels von 1989/90 sowie in Kenntnis von Licht und Schatten unserer eigenen Geschichte zu 40 Jahren DDR, wobei wir zugleich auch alle Taten jener mit dem gleichen Respekt zu würdigen wissen, welche in der alten BRD für die gute Sache einstanden.