RotFuchs 198 – Juli 2014

Warum Rußlands oligarchischer Kapitalismus
nicht imperialistisch ist

Keine Restauration klassischer Art

Hermann Jacobs

Für die Leserzuschriften zu dem im Januar-RF veröffentlichten Artikel „Die Würfel fielen in Moskau“ möchte ich mich herzlich bedanken. Zugleich will ich auf die darin geäußerten Überlegungen, Ergänzungen und Einwände reagieren.

Zunächst soviel: Die Ereignisse in der Ukraine sind nicht nur geeignet, das Rußland von heute besser zu verstehen, sondern auch jenes von einst. Damit meine ich die UdSSR der letzten sowjetischen Periode. Erst jetzt, da Moskau auf Prozesse reagiert, die unmittelbar an die russischen Grenzen herangetragen werden, erscheint dieses Land wieder auf Positionen, die uns gar nicht so fremd vorkommen. Man muß den Begriff Konterrevolution, der vor gut 20 Jahren gefunden wurde, um die Zerstörung des RGW und des Warschauer Vertrages zu erklären, in bezug auf Rußland gar nicht aufgeben, sollte ihn aber relativieren. Tun wir das anhand von Tatsachen: Die weitgehende Wiederherstellung kapitalistischer Eigentumsstrukturen in Gestalt der Herrschaft sogenannter Oligarchen hat im Zusammenhang mit den ukrainischen Ereignissen und der wachsenden faschistischen Gefahr in weiten Teilen Europas einen Schock erfahren. Rußlands politische Führung muß in dieser Situation die Einheit des Staates als vordringlichste innenpolitische Aufgabe betrachten.

Und außenpolitisch? Rußland will mit kapitalistischen Staaten friedlich zusammenarbeiten, was – so wie die Dinge liegen – zwangsläufig ein Prozeß im Rahmen des Kapitalismus ist.

Dr. Vera Butler schreibt im RF zur Rolle Juri Andropows, er habe Gorbatschow quasi als seinen Protegé „angelernt“. Mir scheint, wir sollten den Personenbezug im Prozeß der Ereignisse in der späten Sowjetunion nicht außerhalb eines Sachbezugs diskutieren oder erklären wollen. Hinge alles nur von Personen ab, könnte einem im Hinblick auf den Sozialismus des ersten Jahrhunderts seiner staatlichen Existenz angst und bange werden. Nein, es muß nach einem realen Grund geforscht werden, der das Entstehen einer neuen Fraktion in der KPdSU-Führung, aber auch in der Schicht der politischen Funktionäre und in der sowjetischen Intelligenz erklärbar macht.

Aus meiner Sicht gibt es dafür zwei Gründe: Erstens handelt es sich um deren Unzufriedenheit mit ihrer materiellen Situation, die in eine allgemeine Kritik am „sozialistischen gesellschaftlichen System“ umschlug. Der Systemrückbau bis hin zu einer gewissen Form des Kapitalismus wurde von ihr bewußt betrieben, um das zu ändern.

Als zweiten Grund betrachte ich die Sicherheitslage des Landes. Sie war durch enorme Mittel verschlingende ständige Hochrüstung am Ende instabil geworden, weshalb führende Politiker in Moskau nach einer anderen Außenpolitik mit gesellschaftlichen Konsequenzen Ausschau hielten. Im günstigeren Falle ging es dabei um die Außenpolitik eines friedlichen, als kapitalistisch geltenden Landes, das sich von seiner sozialistischen Vergangenheit abgrenzt. In der Folge käme es weniger auf die durchgehende Kapitalisierung des Landes und mehr darauf an, daß der „westliche“ Kapitalismus es als glaubwürdig betrachtet, daß Rußland ein durch Schwäche zum Kapitalismus zurückgezwungenes Land sei. Es könnten auch beide Gründe für die sowjetische Politik der letzten Jahre bestimmend gewesen sein.

RF-Leser Konrad Hannemann setzt auf innere Reformen nach Maßgabe – sagen wir – des Neuen Ökonomischen Systems der DDR. Aber dann geht seine Erklärung für die „in Moskau gefallenen Würfel“ mit dem Versagen der sowjetischen Form der Planwirtschaft einher. Abgesehen davon, daß ein solcher Zusammenbruch nicht belegt ist, käme letztlich eine Ehrenrettung für die Konterrevolution dabei heraus. Durch sie sei Rußland schließlich vor dem völligen Kollaps gerettet worden. („Denn der russische Staat ist ja nicht untergegangen.“)

Nein, es ging nicht um innere Reformen, sondern um ein Signal nach außen. Aber so, wie der Aufbau des Sozialismus als Prozeß betrachtet werden muß, verhält es sich natürlich auch mit der Rekonstruktion des Kapitalismus.

Wo steht das europäisch-asiatische Riesenland heute in gesellschaftlicher Hinsicht? Ist es den „Bewegungsgesetzen des kapitalistischen Systems ausgesetzt“, wie RF-Leser Harry Pursche meint? Meine Antwort darauf: Man sollte sich jetzt vor allem auf Rußlands Außenpolitik konzentrieren. Sie sagt mehr über den Stand der Innenpolitik aus als diese selbst. Obwohl noch etwa 50 % der großen Produktionsmittel in Staatsbesitz sind, dominiert der Kapitalismus. Aber ist jeder Kapitalismus gleich auch imperialistisch? Überschrieb nicht Lenin sein großes Werk mit den Worten „Der Imperialismus – das höchste Stadium des Kapitalismus“?

Wie ist ein Land einzuschätzen, das auf Imperialismus so reagiert wie Moskau heute? Übrigens hat die UdSSR, die bekanntlich mit England und Frankreich die Antihitlerkoalition einging, stets mit kapitalistischen Ländern zusammengearbeitet, wo sich Zwänge dazu ergaben. Das heutige Rußland tut das nicht minder.

Einst stand die Frage von Koalitionen unterschiedlicher gesellschaftlicher Systeme. Heute geht es um neue Aspekte in gleichgesellschaftlichen Zusammenhängen. Im Falle Rußlands, das derzeit eine antifaschistische Schlacht für den Frieden schlägt, würde ich noch immer von einem Primat der Politik über die Ökonomie sprechen.

Wir sollten auch nach den Gründen für die weitgehende personelle Identität führender Persönlichkeiten der UdSSR und des heutigen Rußland fragen, das ja unmittelbar aus der Sowjetunion hervorgegangen ist. Eine solche Deckungsgleichheit ist ohne Parallele zu den anderen ehemals sozialistischen Ländern Europas.

Bei der Friedens- und Staatssicherung mußte es um möglichst weitgehende Kontinuität der Vertreter der Sowjetunion und der Russischen Föderation gehen. Warum ist denn ein so erfahrener antiimperialistischer Diplomat wie Lawrow russischer Außenminister, von Putin ganz zu schweigen?

Die Antwort könnte lauten: Weil es von Beginn an klar war, daß an das post-sowjetische Rußland früher oder später dieselben Probleme herangetragen würden wie an die UdSSR. Und warum? Weil ein imperialistischer Westen sich nie mit einer selbstbestimmten, nicht von ihm exportierten Konterrevolution in Rußland zufriedengeben würde. Diese verfügte im Unterschied zu allen geschichtlich bekannten Prozessen über keine sie tragende eigene Klasse und konnte auch nicht von einer solchen ersonnen werden. Eine den Sozialismus liquidierende Restauration konnte unter diesen Bedingungen keine klassische Konterrevolution sein. 70 Jahre nach der Oktoberrevolution gab es auf sowjetischem Boden keine Bourgeoisie mehr, was zur Folge hatte, daß ein Umsturz auch nicht von ihr vollzogen werden konnte. So existiert im heutigen Rußland zwar die parasitäre Schicht der Oligarchen und eine Vielzahl von Neureichen, aber noch kein ausgereifter Kapitalismus.