RotFuchs 225 – Oktober 2016

Kurt Pätzold, Faschismus-Forscher

Arnold Schölzel

Als der Historiker Kurt Pätzold am 18. August nach langer Krankheit im Alter von 86 Jahren starb, lagen dem Verlag edition ost drei zum Teil druckfertige Buchmanu­skripte von ihm vor: ein Band über die sogenannte Wannseekonferenz, auf der vor fast 75 Jahren, am 20. Januar 1942, die Spitzenbeamten des Nazireiches und SS-Führer Pläne für die von Hermann Göring am 31. Juli 1941 in Auftrag gegebene „Endlösung der Judenfrage“ beschlossen. Verleger Frank Schumann konnte Pätzold wenige Tage vor dessen Tod noch das erste gedruckte Exemplar des Bandes überreichen. In den nächsten Wochen kommt dieser Band in den Buchhandel.

Zweitens hatte der Forscher ein umfangreiches Manuskript übergeben, an dem er bis in den Sommer dieses Jahres gearbeitet hatte. Es behandelt einen Gegenstand, der Kurt Pätzold schon lange umtrieb, den er vor sich herschob, weil die Antwort auf die mit ihm zusammenhängende Frage schwer zu geben ist. Sie berührt Grundfragen des historischen Materialismus und lautet: Welche Rolle spielen die Volksmassen in der Geschichte? Es läßt sich vorstellen, in welcher Weise dieses Problem gerade den Faschismus- und Weltkriegsforscher, den Zeitzeugen des Aufstiegs der DDR und der Konterrevolution, die ja eine Massenbasis hatte, und den scharfsichtigen Beobachter des kaum gezügelten Kriegskurses, den das imperialistische Deutschland nach dem Anschluß der DDR einschlug, umtreiben mußte. Die „junge Welt“ druckte Auszüge aus diesem Manuskript am 20. und 22. August ab, der gesamte Text soll in nicht zu ferner Zukunft erscheinen.

Das dritte Manuskript besteht aus einer Sammlung von Aufsätzen und Artikeln zum Antisemitismus und zur Vernichtung der europäischen Juden durch den deutschen Faschismus. Nicht nur auf diesem Gebiet war Kurt Pätzold ein international führender Wissenschaftler. Er, der bis in sein letztes Lebensjahr auf ausgedehnte Vortragsreisen ging, hatte dazu nicht nur seine Habilitationsschrift 1973 vorgelegt, sondern auch mit dem mehrmals aufgelegten Reclam-Bändchen „Verfolgung, Vertreibung, Vernichtung. Dokumente des faschistischen Antisemitismus von 1933 bis 1942“ von 1983 das Thema „unter die Massen“ gebracht. Die absurde, seit 1990 von den Anschlußprofiteuren besonders gepflegte Legende, in der DDR habe es keine Beschäftigung mit dem Judentum und seiner Vernichtung gegeben, wird durch weit über 1000 Buchtitel insgesamt, durch kontinuierliche Filmproduktion, durch viele Kunstwerke, nicht zuletzt aber durch Kurt Pätzolds Arbeiten als eine der dümmsten entlarvt.

In das antikommunistische Raster der Abwickler und Liquidatoren der DDR-Geschichts­wissenschaft paßte er überhaupt nicht. Stilistisch und rhetorisch, in seiner Fähigkeit, Geschichte nach ihren grundlegenden Problemen zu befragen, war er ihnen überlegen. Er mußte schon aus Konkurrenzgründen von der Humboldt-Universität, an der er seit 1965 arbeitete, verjagt werden – wegen seiner Gesinnung ohnehin. Die erste Westrektorin der Humboldt-Universität, die verdientermaßen in der Versenkung verschwundene Marlis Dürkop, die vor allem durch ihr Grünen-Parteibuch für das Amt qualifiziert war, entließ Kurt Pätzold gut einen Monat nach ihrer Berufung wegen „mangelnder persönlicher Eignung“. So grotesk dies war, eine Formulierung im Kündigungsschreiben hat in der Geschichtsschreibung der vornehmen, im Resultat aber talibanmäßigen Barbarei, die von Leuten wie Dürkop mit Eifer und Rachedurst ins Werk gesetzt wurde, ihren festen Platz: „Noch in den 70er Jahren gehen Sie in ihren Arbeiten zum Faschismus ganz dogmatisch von der Faschismusformel der Kommunistischen Internationale von 1933 aus … Die fachliche Qualifikation kann Ihnen bei aller doktrinären und propagandistischen Elemente in den Veröffentlichungen aus der Zeit bis 1989 nicht pauschal abgesprochen werden.“

Dabei ist es geblieben. Denn Kurt Pätzold hat zuletzt mit steigender Sorge auf den Zusammenhang von Imperialismus und Faschismus hingewiesen, auf den Zusammenhang von imperialistischer Kriegführung und Völkermord, auch dem an den Juden Europas, von dem so mancher sich links gebende, aber vom Marxismus „befreite“ Zeitgenosse behauptet, der sei „irrational“, ja „unfaßbar“. Er machte je länger desto deutlicher darauf aufmerksam, es sei kein Zufall, daß der Begriff Faschismus in den vergangenen Jahren endgültig aus dem Sprachgebrauch der Bundesrepublik beseitigt und durch das Propagandaetikett, das sich die braune Mordbande selbst angeheftet hatte, ersetzt wurde: „Nationalsozialismus“. Ihn, den Sohn einer antifaschistischen sozialdemokratischen Arbeiterfamilie aus Breslau, trieb um, was er in seinem Band „Der Überfall. Der 22. Juni 1941“ in diesem Jahr als Warnung schrieb: „Die mißbräuchliche Mobilisierung von Völkern gegen ihre eigenen Interessen gehört nicht der Vergangenheit an. Geändert und ungeheuer vermehrt hat sich aber das Instrumentarium, das dafür eingesetzt wird. Josef Goebbels lebt in vielerlei Gestalt weiter, wenn auch nicht in Braun und mit einer Hakenkreuzbinde am Arm.“

Mit Kurt Pätzold ist einer der großen DDR-Wissenschaftler gestorben, deren Werk nicht der Vergessenheit oder gar wie das vieler anderer der Vernichtung preisgegeben werden konnte. Das hat mit dessen geistiger Dimension zu tun und mit den Zeiten, in denen wir seit 1990 leben.