RotFuchs 213 – Oktober 2015

Was ich im Herbst 1990 an Oskar Lafontaine schreiben wollte

Lassen Sie uns die
historische Chance nutzen!

Werner Heiden

Im Herbst 1990 trug sich der Autor, damals Mitarbeiter des DDR-Außenministeriums, mit dem Gedanken, dem seinerzeitigen SPD-Spitzenpolitiker Oskar Lafontaine seine Meinung zu aktuellen Entwicklungen kurz vor dem Anschluß der DDR an die BRD darzulegen. Er schickte den Text zwar nicht ab, bewahrte ihn aber auf und übermittelte die folgenden – redaktionell leicht überarbeiteten und gekürzten – Zeilen dem RF.

Ich bin Mitglied der PDS, doch niemand in meiner Partei hat mich beauftragt, diesen Brief zu schreiben. Rückblickend auf die Zeit seit Ende 1989 erinnere ich mich einer Kundgebung am Abend des 19. Dezember vor dem Schauspielhaus in Berlin, die eine Fern-Gegendemo zur Huldigung für Kanzler Kohl in Dresden sein sollte. In weißer Schrift stand auf einem schwarzen Transparent: „Wollt Ihr den totalen Kohl?“ Und junge Leute einer Singegruppe skandierten: „Lieber rote Rüben als Kohl von drüben!“

„Totaler Kohl“ heißt heute im Klartext: Okkupation und Kolonisierung der DDR. Begonnen hat sie bereits und wird vom großen Kapital aller Schattierungen mit Vehemenz und Brutalität geführt. Die „Brüder und Schwestern“ wurden zu seinen Wasserträgern und Sklaven.

Grafik: Arno Fleischer

Das Berliner Lenin-Denkmal mußte den Bilderstürmern Ende 1991 trotz hartnäckigen Widerstands weichen.

Was geschah in der Menschheitsgeschichte immer als erstes bei der Besetzung eines anderen Landes? Man vernichtete die Kultstätten und beseitigte die denkenden Köpfe. Analoges geschieht heute auf dem Territorium der DDR. Die Entfernung des Staatswappens von allen Gebäuden und jetzt sogar von der Kopfbedeckung der NVA-Angehörigen sind zwar lächerliche Akte sich spreizender Sieger, zugleich aber eine moderne Form erster Schritte der beginnenden Hexenjagd.

Es ist doch alarmierend, wenn ernsthafte Menschen jetzt bereits Überlegungen anstellen, aus dem künftigen Deutschland auszuwandern. Selbst über Fünfzigjährige treiben solche Gedanken um.

Bisher war ich der Meinung, daß zumindest die Bürger der DDR Nützliches aus der deutschen Geschichte gelernt haben. Doch angesichts der neuen Situation bricht selbst bei nicht wenigen von ihnen die im Westen dominierende deutsche Arroganz wieder durch: der Herrenmensch, der schon immer recht hatte. Manche im Osten teilen das Gefühl anderer, wenn sie empfinden: Mit der D-Mark „sind wir wieder wer“.

Nach dem 30. Januar 1933 folgte die Mehrzahl der Deutschen den Hitlerfaschisten vor allem deshalb, weil sie ihr Arbeit und Brot verschafften. Wodurch und wofür – darüber wurde nicht nachgedacht. Man war ja satt. Als dann das bittere Ende kam, wollten die meisten Mitmacher von vielem nichts gewußt haben.

Nach 1945 ließ der schon bald beginnende Kalte Krieg keine tiefgründige Geschichtsanalyse – auch für jeden persönlich – zu. Man vergaß schnell und blickte „nach vorne“. Die spätere Führung der SED und der DDR konnte sich auf den redlich erworbenen Bonus des Widerstandes der besten Deutschen gegen den Faschismus stützen. Allerdings entstand auch der täuschende Eindruck, als ob größere Teile des Volkes zu den Akteuren gehört hätten.

Und heute? Etliche jener, die sich in der DDR aktiv einbrachten, spielen jetzt plötzlich „Opfer des Stalinismus“. Es ist ja so bequem, neuen Herren zu dienen. Nachdenken? Wozu, solange das Geld stimmt. Wenn ich was sage, verliere ich nur meinen Job. Einfacher ist es doch, sich an der Verfolgung Andersdenkender zu beteiligen. An Buhmännern soll es nicht fehlen: Kommunisten, PDS, alle Linken. Das ganze Spektakel läuft unter dem Motto: Freedom and Democracy!

Schlimmes zeichnet sich für die Zukunft auf deutschem Boden ab: Das Volk der DDR soll erniedrigt und gedemütigt werden. Eigentum? Alles geht an die früheren Besitzer zurück oder wird ganz einfach verschleudert. Daß mit diesem oftmals zusammengeraubten Eigentum und dem Ziel seiner Vergrößerung gigantische Naziverbrechen bis zum Völkermord begangen wurden, spielt keine Rolle mehr. Privateigentum anstelle von Volkseigentum heißt die Devise!

Von wegen LPG und freier Bauer auf freier Scholle! Die 1945/46 erfolgte Enteignung der Gutsbesitzer war pures Unrecht! Und die Rolle des Junkertums als einer tragenden Säule der Nazidiktatur bleibt außer Betracht. All das zählt nicht mehr! Im Augenblick wagt man sich noch nicht direkt an die Ergebnisse der Bodenreform heran, doch da Kapital unersättlich ist, wird es auch hier keine Grenzen kennen.

Und was wird aus den Hunderttausenden Pächtern oder Nutzern von Gartengrundstücken, die z. T. noch Alt-Bundesbürgern oder Westberlinern gehören, in die aber Menschen aus der DDR oft jahrzehntelang ihr Wissen und Können, ihr Geld und ihre Arbeit gesteckt haben? Die ersten selbsternannten Grund- und Hausbesitzer haben ja bereits angeklopft.

Werden diese DDR-Bürger die jüngsten Vertriebenen, wobei die Vertreiber ebenfalls Deutsche sind? Beginnt die Nachkriegsgeschichte erneut, diesmal auf ostdeutschem Boden?

Das Kapital will die staatliche Einheit, doch wir DDR-Bürger sollen den Preis dafür bezahlen. Der Osten soll ein bloßer Absatzmarkt werden. Kein Kapitalist ist so dumm, die Entwicklung eines Konkurrenten zuzulassen. Also werden seine Waren im Osten verkauft, solange die Ersparnisse der „Ossis“ das hergeben. Wenn unsere Wirtschaft am Boden liegt, erhält sie der Käufer zum Nulltarif.

Ich würde mich freuen, wenn meine schlimmen Befürchtungen nicht einträten, habe aber versucht, mich des „analytischen Bestecks von Marx“ zu bedienen, das nach Friedrich Schorlemmer noch immer im Gebrauch ist.

Lassen Sie uns die historische Chance nutzen, ein für alle Zeiten friedliches Deutschland aufzubauen!

Unser Autor wollte seine für Oskar Lafontaine bestimmten Zeilen mit den Sätzen schließen:

Sicher teilen Sie meine Positionen nicht. Falls der Brief aus Ihrer Sicht Überlegenswertes enthält, lassen Sie ihn bis nach der Vereinigung ruhen. Ich würde dann auf meine Aussagen zurückkommen.