RotFuchs 229 – Februar 2017

Martin Niemöller –
ein christlicher Revolutionär

Prof. Dr. Heinrich Fink

Martin Niemöller

Die von Martin Niemöller bei politischen Entscheidungen oft gestellte Frage war: „Was würde Jesus dazu sagen?“ Das war für ihn keine fromme Floskel, sondern seine Überzeugung, sich in schwierigen Situationen Rat zu holen.

Niemöller war ein frommer Mann, obwohl ihm in seinem Leben Widersprüche und Brüche nachgesagt werden. Er war in einem konservativen westfälischen Pfarrhaus aufgewachsen, in dem, wie er berichtete, „Kaisertum und väterliche Gesinnung“ als notwendige christliche Attribute galten. Tägliches Bibellesen, beten und Rücksicht auf arme Leute gehörten zu seiner Erziehung, auf die seine Mutter großen Einfluß hatte. Fleiß und Hilfsbereitschaft waren für seinen Vater Prinzip. In der Gemeinde herrschte eine unbeschreibliche Armut. Der Vater versuchte, durch Sammlungen und Spenden den Gemeindegliedern zu helfen. Diese Hilfsbereitschaft brachte ihm den Namen „Bettelpastor“ ein. Niemöller erinnert sich, daß sein Vater allerdings mit ihm niemals über die Ursachen der Armut gesprochen hat. Er hielt ihn an, gut zu lernen, um nicht arm zu werden. Er war Klassenbester und machte auch als solcher das Abitur. Danach zog er als Kaiserlicher Seekadett zum Militär. Er wurde Berufsoffizier und erhielt mit Stolz das Eiserne Kreuz Erster Klasse. Auf diesen Abschnitt seiner Biographie später befragt, wie er sich heute dabei fühle, antwortete er: „Wenn ich damals ein denkender Mensch gewesen wäre und hätte mehr Zeit auf das Denken verwandt, dann hätte ich vielleicht früher zu besseren Erkenntnissen kommen können. Heute schäme ich mich vor mir.“

Nach der Novemberrevolution quittierte er den Militärdienst, weil er nicht wußte, wem er in der neuen Republik dienen sollte. Er entschloß sich, den Wunsch seines Vaters zu realisieren, und studierte Theologie. Er beginnt jetzt, politisch zu denken und arbeitet als Theologiestudent im katholischen Münster im Stadtrat in der Kommunalpolitik. Er gründete eine evangelische Fraktion und versuchte, in ihr kommunalpolitisch zu wirken. Allerdings war er der Politik der NSDAP mit ihren sozialen Forderungen nicht abgeneigt. Nach seinem Vikariat und der diakonischen Arbeit bekam er in Berlin-Dahlem eine Pfarrstelle. Die Gemeinde war bereits für ihre kritische Haltung gegenüber der NSDAP bekannt. Sie war, so meinte Niemöller, sowohl theologisch als auch politisch verläßlich, um mit ihr – nach den 1933 heraufziehenden Stürmen – den Kampf gegen den Faschismus aufnehmen zu können.

1933 gelingt es in dieser Gemeinde der „Glaubensbewegung Deutscher Christen“, der es um eine Gleichschaltung der evangelischen Kirche mit dem Staatsdienst ging, mit Hilfe der neuen Machthaber Schlüsselpositionen in Kirchenleitung und Synode zu besetzen. Auf diese Weise konnte dann auf der Generalsynode der Altpreußischen Union die Einführung des Arierparagraphen in den Kirchen durchgesetzt werden. Damit wurde auch das neue Beamtengesetz des faschistischen Staates wirksam – daß Personen mit nicht-arischer, d. h. jüdischer Abstammung aus allen Amtsstellen entlassen werden konnten. Diese Entscheidung wurde von der evangelischen Kirche übernommen.

Hier setzte Niemöllers Widerstand ein: „Wer Christen von kirchlichen Ämtern ausschließt, nur weil sie jüdischer Herkunft seien, ersetzt die Taufe durch den Stammbaum.“

Er rief seine Amtsbrüder zur Gründung eines „Pfarrernotbundes“ auf, der dann zur Ausgangsbasis der sich gründenden Bekennenden Kirche wurde. Nach zwei Monaten – bis Weihnachten 1933 – wurden 5500, d. h. ein Drittel aller evangelischen Pfarrer in Deutschland, Mitglieder im Pfarrernotbund.

Anfang 1934 kam es zu einer persönlichen Konfrontation zwischen Hitler und Niemöller. Hitler hatte eine Anzahl von Kirchenvertretern zum 25. Januar zu einer Unterredung eingeladen. Er rückte in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, daß in einem von Göring abgehörten Telefongespräch Niemöller despektierliche Worte über die NS-Kirchenpolitik gemacht habe. Dazu erklärte Hitler in barschem Ton, daß Niemöller sich ausschließlich um Kirche kümmern solle und nicht um Politik. Martin Niemöller widersprach öffentlich, daß „weder Sie noch eine Macht in der Welt in der Lage sind, uns als Christen die uns von Gott auferlegte Verantwortung für unser Volk ablegen zu lassen“.

Dies empörte Hitler so sehr, daß er Niemöller umgehend Predigtverbot erteilen ließ und ihn zum „Feind des deutschen Volkes“ erklärte. Bis 1937 mußte Niemöller sich 40 Gerichtsverfahren stellen, wurde wiederholt verhaftet und saß schließlich als persönlicher Gefangener Hitlers acht Jahre im KZ Sachsenhausen und Dachau. Später wies Niemöller wiederholt darauf hin, daß die selbstverständliche Solidarität der kommunistischen Mithäftlinge auch ihm, dem Pfarrer, gegenüber ihn tief beeindruckt habe. Er habe sich geschämt, daß er zu diesen Hitlergegnern nicht schon vor seiner Verhaftung Kontakt gesucht habe.

Unfaßbar aber war für ihn, daß er mit der Befreiung Deutschlands vom Faschismus nicht sofort auf freien Fuß gesetzt wurde. Man erklärte ihm, daß er als „dangerous person“ (gefährliche Person) eingestuft sei und deshalb zunächst noch als Gefangener der amerikanischen Besatzungsmacht gelte. Erst am 4. Juni konnte Niemöller durch Hungerstreik seine Freilassung erwirken. Später sagte er, daß ihm diese bittere Erfahrung den „kalten Krieg“ signalisiert habe.

Eine weitere Erkenntnis, die Niemöller der Kirche im befreiten Deutschland deutlich machte, war: „Neuanfang beginnt mit dem Bekennen von Schuld.“

Als im August 1945 eine größere ökumenische Gruppe von Brüdern (leider keine Schwestern) einen Besuch in Deutschland machte, ermahnte Karl Barth die deutsche Kirche: „Ihr könnt nicht so ohne weiteres zur Tagesordnung übergehen. Ihr müßt erklären, was Ihr getan und nicht getan habt.“

Bei dieser Erklärung kam in Stuttgart ein Schuldbekenntnis zustande, in dem aber weder die Schuld an den Juden, den Sinti und Roma, den umgekommenen Behinderten und den Homosexuellen erwähnt ist. Trotzdem hoffte Niemöller, daß mit dem „Stuttgarter Schuldbekenntnis“ (1945) und dem „Darmstädter Wort“ des Bruderrates der Bekennenden Kirche (1947) ein Neuanfang für die Kirche in gesellschaftliche Verantwortung gesetzt worden sei.

Die Gründung der Bundesrepublik Deutschland lehnte Niemöller energisch ab, denn er sah darin das Ende wichtiger Verhandlungen um die zu gestaltende Einheit Deutschlands. Er sprach daher von einer zementierten Spaltung.

Adenauer bezeichnete Niemöller als Landesverräter. Wen wundert es da, daß Bischof Dibelius zu verhindern suchte, daß Niemöller wieder Pfarrer in der Gemeinde Berlin-Dahlem werden durfte.

Niemöller wurde von dem konservativen Flügel in der EKiD nach und nach isoliert. Er schreibt am 22. Juni 1946 an Pfarrer Hans Asmussen: „In der Landeskirche herrscht überall eine kaum noch zu verbergende Politik der Restauration und Reaktion. Nicht das Wort Gottes und seine kräftigende Hervorhebung in der Verkündigung und Ordnung der Kirche stehen im Mittelpunkt, sondern Bestrebungen, die Heimatkirche der reaktionär verfaßten Kirche von vorgestern, die konfessionalistische Eigenbrötelei und hierarchisch-liturgische Romantik zu entscheidenden Gesichtspunkten zu machen.“

Niemöller blieb weiter eine „dangerous person“. Auch als Kirchenpräsident der evangelischen Kirche Hessen-Nassau (1947–1964) blieb er unbequem. Ab 1950 begründet er in unzähligen öffentlichen Vorträgen und in einem offenen Brief seine Ablehnung der Remilitarisierung. 1952 nahm er eine Einladung nach Moskau an, zwei Jahre darauf diskutierte er mit den Atomphysikern Otto Hahn, Werner Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker die Gefährdung des Weltfriedens durch die atomare Bewaffnung. Der ehemalige U-Boot-Kommandant wurde konsequenter Pazifist und 1954 Präsident der deutschen Friedensgesellschaft. Drei Jahre darauf stimmte er auf der gesamtdeutschen Synode der evangelischen Kirche gegen den Militärseelsorgevertrag. 1959/60 war er ein Mitbegründer der Prager Christlichen Friedenskonferenz, die sich in biblisch-ökumenischer Überzeugung der Forderung Bonhoeffers verpflichtet fühlte, „den Völkern im Namen Christi die Waffen aus der Hand zu nehmen“. 1967 wurde er Ehrenpräsident des Weltfriedensrates. Die Ostermärsche unterstützte er bis zu seinem Tode am 6. März 1984.

In summa war und ist Martin Niemöller für alle, die aus Profitgier Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung mißachteten und mißachten, tatsächlich eine „dangerous person“.

„Ich habe mich von einem sehr konservativen Menschen zu einem fortschrittlichen Menschen und am Schluß zu einem revolutionären Menschen entwickelt.“

Wir gratulieren uns zu seinem 125. Geburtstag und sind froh, ihn gehabt zu haben.