RotFuchs 222 – Juli 2016

WISSENSCHAFTLICHE WELTANSCHAUUNG
Zyklus „Lebendiger Marxismus“

Marx’ Lebensweg bis zur Ausarbeitung
des Kommunistischen Manifests – 1. Teil

RotFuchs-Redaktion

Auch die derzeitige Bundesregierung kann es nicht verhindern: Das Interesse am Marxismus, die Nachfrage nach dem wahren und unverfälschten Marx wuchsen und wachsen in Westdeutschland rapide an. Während der sozialdemokratische Parteivorstand längst auch die kümmerlichsten Überreste des Marxismus aus seinem Programm gestrichen hat, studieren sozialistische Studenten und junge Gewerkschafter in zunehmender Zahl Marx’ Schriften. Während die Kiesinger-Strauß-Wehner-Regierung Antikommunismus, Antidemokratismus und damit auch Antimarxismus als Staatsdoktrin demonstriert, tragen westdeutsche Jugendliche in sinnig-satirischer Verhöhnung imperialistscher Meinungsmanipulation stolz ihre Plaketten „I like Marx“. Während Herr König, sozial-demokratischer Bürgermeister von Trier, spöttelt: „Wir haben Marx als Vater der Partei abgegeben und geben ihn der Nation als Großvater“[1], haben bereits Zehntausende zum Handeln entschlossener Demokraten, Antifaschisten und Notstandsgegner an diesem angeblichen Großvater Marx frappierend junge, für die bundesdeutsche Wirklichkeit aktuelle Züge entdeckt, haben ihn zu ihrem Verbündeten, haben den angeblichen Großvater Marx zum Zeitgenossen Marx gemacht.

Zum 150. Geburtstag von Marx erweist sich seine Theorie nicht allein als scharfe geistige Waffe im Ringen der Arbeiterklasse um die Macht. Der Marxismus hat heute seine Lebensfähigkeit und Stärke auch als konstruktive Kraft bestätigt, die immer neue ökonomische, soziale, politische und geistige Energien freigesetzt.

Das Werk aber ist nicht von seinem Schöpfer, der Marxismus nicht von Marx zu trennen. Wir wollen daher heute und in den nächsten beiden Folgen dem Lebensweg von Karl Marx in jenen Jahren und Jahrzehnten nachgehen, als er, bald gemeinsam mit Friedrich Engels, die Grundlagen seiner Theorie, die Grundlagen des wissenschaftlichen Sozialismus, ausarbeitete, jener Theorie, die im Frühjahr 1848 im „Manifest der Kommunistischen Partei“, zum ersten Mal als Programm der revolutionären Arbeiterbewegung zusammengefaßt, ihren Siegeszug antrat. Wir werden diesen Lebensweg und damit den Schaffensprozeß von Marx in drei Etappen behandeln – bis 1842, von 1842 bis Mitte 1844, von Mitte 1844 bis Frühjahr 1848 –, und wir werden versuchen, trotz der gebotenen Kürze ein möglichst plastisches Bild von den inneren und äußeren Kämpfen zu skizzieren, die Karl Marx, dieser Revolutionär der Wissenschaften und Wissenschaftler der Revolution, bereits in jungen Jahren zu bestehen hatte.

Als Karl Marx vor 150 Jahren geboren wurde, bot die politische Landkarte Deutschlands einen bunten Anblick. Deutschland war zerrissen in zahlreiche große und kleine Staaten, mühsam zusammengehalten durch den Deutschen Bund, eine Vereinigung der feudalen Fürsten. Mit Terror und Demagogie hatten die feudalen Herrscher nach der Vertreibung Napoleons aus Deutschland ihre politische Macht wiedererrichtet und im Bunde mit dem russischen Zaren eine „Heilige Allianz“ gegen alle demokratischen Kräfte geschlossen.

In dieser Periode der schwärzesten Reaktion wurde am 5. Mai 1818 Karl Marx in Trier an der Mosel geboren. Doch er wurde geboren in dem ökonomisch und politisch fortgeschrittensten Gebiet Deutschlands, in der preußischen Rheinprovinz, und in einer Familie, in der der Geist der bürgerlichen Aufklärung und der Humanität lebendig war. In diesem Geiste des bürgerlichen Humanismus wurde der junge Karl, der älteste Sohn in der kinderreichen Familie, auch erzogen. Im Kreis seiner Geschwister verlebte der junge Marx eine heitere und sorgenfreie Kindheit. Auf dem Gymnasium, das er ab 1830 besuchte, machte er gute Fortschritte.

Im September 1835, mit erst 17 Jahren, bestand der junge Karl Marx die Reifeprüfung. Die Leistungen, die ihm die Königliche Prüfungskommission bescheinigte, waren guter Durchschnitt. Das Abiturzeugnis ließ noch nicht vermuten, was in dem 17jährigen steckte. Eines aber ließ aufhorchen, sein Abituraufsatz „Betrachtung eines Jünglings bei der Wahl seines Berufes“.

Der junge Marx verurteilte eine Berufswahl, die nur auf eigensüchtigen oder gar materiellen Interessen beruhte. „Die Erfahrung“, schrieb er, „preist den als den Glücklichsten, der die meisten glücklich gemacht.“[2] Doch der heranwachsende Marx erkannte auch, daß die Wahl des Berufes nicht nur vom Wollen des einzelnen abhängt. „Wir können nicht immer den Stand ergreifen, zu dem wir uns berufen glauben“, schrieb er, „unsere Verhältnisse in der Gesellschaft haben einigermaßen schon begonnen, ehe wir sie zu bestimmen imstande sind.“[3]

Dieser Gedanke läßt aufhorchen, zeugt er doch davon, daß sich der Abiturient bereits der Bedeutung der sozialen Verhältnisse im menschlichen Leben bewußt zu werden begann. Voll jugendlichem Idealismus schloß er seinen Aufsatz mit den Worten: „Wenn wir den Stand gewählt, in dem wir am meisten für die Menschheit wirken können, dann können uns Lasten nicht niederbeugen, weil sie nur Opfer für alle sind; dann genießen wir keine arme, eingeschränkte, egoistische Freude, sondern unser Glück gehört Millionen.“[4]

Mit diesem Vorsatz, sein Leben in den Dienst an der Menschheit zu stellen, verließ Karl Marx im Oktober 1835 Trier und begann das Universitätsstudium, zunächst in Bonn, ab 1836 in Berlin. Auf Wunsch des Vaters studierte er Jura. Doch er „fühlte vor allem Drang, mit der Philosophie zu ringen“[5], wie er dem Vater gestand. In der Tat begann nun in Berlin ein leidenschaftliches Bemühen des Studenten um eine Weltanschauung, die ihm eine feste Grundlage für seine wissenschaftliche Arbeit wie für seine politischen Auffassungen geben konnte. Er studierte unermüdlich, zeigte Interesse für alle Zweige der Gesellschaftswissenschaften, der Literatur und Kunst, durchdachte kritisch alles Gelesene, machte Exzerpte, schrieb kleinere Monographien, um die erworbenen Kenntnisse zu verarbeiten, verwarf sie aber bedenkenlos, wenn sie seiner selbstkritischen Prüfung nicht standhielten. Mit dieser auch für Marx’ spätere wissenschaftliche Arbeit charakteristischen Methode eignete er sich Schritt für Schritt die positiven Errungenschaften der bisherigen Philosophie und Gesellschaftswissenschaften an und begann, sie kritisch an der Wirklichkeit, an der Praxis zu überprüfen.

War die bürgerliche Klasse in Deutschland bis in die 1830er Jahre noch nicht reif und stark genug, den Feudalismus politisch zu schlagen und zu vernichten, so bereitete sie dennoch auf ideologischem Gebiet die bürgerliche Revolution vor. Das geschah durch die klassische deutsche Literatur und vor allem die klassische Philosophie des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts. Ihre Vertreter richteten die Waffe der Kritik gegen den gleichen Gegner, den die Bourgeoisie auf politischem Gebiet bekämpfte – die Feudalklasse.

Natürlich stieß diese sogenannte philosophische Revolution auf den heftigsten Widerstand der Wortführer des Feudalismus. Und natürlich spiegelten auch die Ideen und Werke der hervorragendsten Vertreter der klassischen deutschen Philosophie – Immanuel Kants, Johann Gottlieb Fichtes, Georg Wilhelm Friedrich Hegels und Ludwig Feuerbachs – nicht nur die Widersprüche zwischen der aufstrebenden kapitalistischen Gesellschaft und der überlebten Feudalordnung, sondern auch die politischen Inkonsequenzen des jungen deutschen Bürgertums wider. Gleichwohl aber bahnten sie den Weg für die notwendige bürgerliche Umgestaltung Deutschlands.

Vor diesem Hintergrund politischer und philosophischer Auseinandersetzungen vollzog sich Marx’ Ringen um einen gesicherten weltanschaulichen Standpunkt. Marx’ Streben, seine philosophischen Auffassungen, die zunächst durch den subjektiven Idealismus geprägt waren, mit Geschichte und Gegenwart der Menschheit, also mit der Wirklichkeit in Übereinstimmung zu bringen, kam die Lehre des Berliner Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der Hegelianismus, entgegen. Hegels genialer philosophischer Versuch, mit Hilfe der Dialektik auf allen Gebieten der Menschheitsgeschichte und insbesondere des menschlichen Denkens eine durchgehende Entwicklungslinie nachzuweisen – nämlich die Entwicklung der „absoluten Idee“ –, wirkte auf Marx wie auf zahlreiche andere junge Intellektuelle jener Zeit faszinierend. Marx erkannte in der Philosophie Hegels bald das Wesentliche: die dialektische Methode. In einem Brief an den Vater bezeichnete der Neunzehnjährige seinen Übergang zu Hegel als eine Wendemarke in seinem Leben – ein erstaunliches Urteil, denn tatsächlich sollte dieser Übergang zu einem Ausgangspunkt in der Entwicklung des wissenschaftlichen Sozialismus werden.

Marx’ Bekehrung zu Hegel, vor allem zu dessen Dialektik, vollzog sich in einem Kreis Gleichgesinnter, im „Doktorklub“. In ihm hatten sich junge Berliner Akademiker vereinigt, die aus Hegels Philosophie revolutionäre Schlußfolgerungen zogen und Junghegelianer genannt wurden. Doch während die meisten Junghegelianer die Hegelsche Dialektik vorwiegend auf geistig-spekulativem Gebiet, besonders in der Religionskritik, anwandten, ohne konkretes Studium der Wirklichkeit, wuchs in Marx das Bestreben, die Philosophie auf die Wirklichkeit anzuwenden.

Als Marx im April 1841 auf Grund seiner Dissertation promoviert wurde, war er bereits zu einem demokratischen Standpunkt gelangt. Während die meisten anderen Junghegelianer liberale Gedanken verfochten, sich also zu den politischen Zielen der Bourgeoisie bekannten, wollte Marx statt nur für die Klasseninteressen der Bourgeoisie für die Interessen des ganzen Volkes kämpfen.

Der junge Doktor der Philosophie kehrte zurück nach Trier, sehnlich erwartet von seiner Jenny. Schon als Student, im Sommer 1836, hatte er sich, zunächst heimlich, mit Jenny von Westphalen, seiner Jugendfreundin, verlobt. Der Bund zwischen dem einfachen Bürgersohn und der jungen Adligen, der sich die glänzendsten Partien anboten, war nach den damals herrschenden Sitten eine Sensation, ja ein Wagnis. Er sollte sich jedoch in jahrzehntelanger Lebens- und Kampfgemeinschaft glänzend bewähren. Noch aber war an eine Heirat nicht zu denken. Marx war ohne Stellung und damit ohne sichere Existenzgrundlage.

Seine Hoffnung, an der Bonner Universität eine Dozentur zu bekommen, zerbrach, da die reaktionäre preußische Regierung rigoros alle oppositionellen Kräfte, voran die Junghegelianer, von den Universitäten vertrieb oder fernhielt. So wurde Marx, der zu keinerlei Zugeständnis an die Ideologie des Feudalabsolutismus bereit war, durch die Auseinandersetzungen zwischen der anschwellenden antifeudalen Opposition und dem reaktionären preußischen Staat auf das Gebiet gedrängt, das zu Beginn der 1840er Jahre zum wichtigsten Kampfplatz zwischen Reaktion und Fortschritt wurde: die politische Publizistik.

Zunächst arbeitete er zwar noch, gemeinsam mit dem Junghegelianer Bruno Bauer, an einigen religionskritischen Schriften und las und exzerpierte zu diesem Zweck zahlreiche kunst- und religionsgeschichtliche Werke. Doch immer stärker lehrten ihn die Erfahrungen des täglichen Lebens, daß gegenüber dem preußischen Staat Kritik auf philosophischem Gebiet nicht ausreichte. Pflicht der Philosophen, so schien ihm, war es, unmittelbar und direkt in den politischen Kampf einzugreifen. Als sich ihm die Gelegenheit dazu bot, nutzte er sie mit Energie und Leidenschaft.

Wie ein Fanfarenstoß wirkte seine erste journalistische Arbeit „Bemerkungen über die neueste preußische Zensurinstruktion“, in der er mit rücksichtsloser Schärfe die reaktionäre Zensur anprangerte. Mit unerbittlicher Logik und scharfem Spott wies er nach, daß die scheinliberale Milderung der Zensur im Grunde genommen auf eine Verschärfung der ohnehin äußerst willkürlichen Handhabung der Zensur hinauslief. Er kam zu dem Schluß, daß die reaktionäre Zensur nicht gemildert oder geändert, sondern völlig abgeschafft werden müsse. „Die eigentliche Radikalkur der Zensur wäre ihre Abschaffung“[6], schrieb er.

Mit diesem Aufsatz trat Marx in den unmittelbaren politischen Kampf ein und nahm erstmalig unverhohlen Stellung gegen den Feudalabsolutismus. Schon diese Arbeit erwies ihn eindeutig als revolutionären Demokraten, dem es darauf ankam, die reaktionären Zustände zu beseitigen, und nicht nur, sie zu reformieren.

Im Frühjahr 1842 – er hielt sich gewöhnlich in Trier, Bonn oder Köln auf – machte Marx eine für seine geistige Entwicklung wichtige Bekanntschaft. Er lernte die Ideen des süddeutschen Philosophen Ludwig Feuerbach kennen. Feuerbach verwarf, besonders in seinem Buch „Das Wesen des Christentums“, jede Religion sowie den gesamten Hegelschen Idealismus als unvereinbar mit dem wirklichen Wesen der Welt und mit der Würde des Menschen. An ihre Stelle setzte er den philosophischen Materialismus, wobei er freilich den Materialismus nur auf die Natur, nicht aber auch auf die menschliche Gesellschaft anwandte.

Feuerbachs Buch brach den Bann der Hegelschen Philosophie. Seine materialistischen, atheistischen und humanistischen Gedanken wirkten auf Marx – wie übrigens auch auf Friedrich Engels und viele andere progressive Intellektuelle – elektrisierend und halfen ihm bei seiner kritischen Überwindung des Hegelianismus und seiner Hinwendung zur Praxis.

Friedrich Engels schrieb noch Jahrzehnte später über Feuerbachs Werk „Das Wesen des Christentums“: „Man muß die befreiende Wirkung dieses Buchs selbst erlebt haben, um sich eine Vorstellung davon zu machen. Die Begeisterung war allgemein: Wir waren alle momentan Feuerbachianer.“[7]

Der Wunsch, mit der Waffe der Philosophie in den Tageskampf einzugreifen, war es auch, der Marx 1842 an der oppositionellen „Rheinischen Zeitung für Politik, Handel und Gewerbe“ mitarbeiten ließ. Die „Rheinische Zeitung“ war Anfang 1842 von der aufstrebenden Bourgeoisie der preußischen Rheinprovinz gegründet worden mit dem Ziel, die ökonomischen und politischen Interessen des rheinländischen Handels und Gewerbes zu verfechten. Zahlreiche oppositionelle, gegen den preußischen Militärstaat und seine Ideologie auftretende Kräfte sammelten sich um dieses Publikationsorgan.

Die ersten Aufsätze, die Marx in der „Rheinischen Zeitung“ publizierte, richteten sich wieder vor allem gegen die Zensur. Sie erregten solches Aufsehen und solche Zustimmung im liberalen und demokratischen Bürgertum, daß die Herausgeber der Zeitung im Oktober 1842 Marx zum leitenden Redakteur beriefen. Damit begann ein neuer Lebensabschnitt für den zum revolutionären Demokraten reifenden Marx.

Anmerkungen:

  1. „Die Welt“, Nr. 44, 21. Februar 1968
  2. Karl Marx/Friedrich Engels:
    Werke (im folgenden: MEW), Ergänzungsband, Erster Teil, S. 594
  3. Ebenda, S. 592
  4. Ebenda, S. 594
  5. Marx an Heinrich Marx, 10. November 1837. Ebenda, S. 4
  6. MEW, Bd. 1, S. 25
  7. Friedrich Engels:
    Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie
    In: MEW, Bd. 21, S. 272