RotFuchs 227 – Dezember 2016

Meine Gedanken
zum Bildungssystem in der DDR

Prof. Dr. Ingeborg Rapoport

Durch unsere vier Kinder war ich in den Elternabenden und -aktiven eines Kindergartens und von acht verschiedenen Schulen, so daß ich auf eine Vielzahl von Eindrücken und Erlebnissen zurückblicke, die sowohl von der politischen allgemeinen „Linie“ als auch von einzelnen Lehrerpersönlichkeiten geprägt waren.

Es bestand für mich kein Zweifel, daß die DDR ein kinderliebendes Land war und ehrlich bemüht, eine gebildete, auf moderne naturwissenschaftliche Anforderungen ausgerichtete, vor allem antifaschistische und möglichst dem Sozialismus sich zuneigende Jugend zu erziehen – eine Jugend frei von Standesdünkel und Rassismus, eine Jugend, die für Völkerfreundschaft und Frieden eintritt, wie es dem antifaschistischen Teil der Arbeiterklasse als Ideal vorgeschwebt hatte.

Diese Erziehung erfolgte in den Kindergärten und in der Pionierorganisation, in den Schulen und Horten, in den Ferieneinrichtungen und Jugendweihestunden, in der Freien Deutschen Jugend, auf den Universitäten und Fach- und Berufsschulen.

Mit Sicherheit kann man sagen, daß in der DDR eine andere Jugend heranwuchs als in der BRD, eine Jugend, die ein Miteinander in Kollektiven erlebt hatte, deren Gemeinsinn unentwegt gefordert wurde, die – was den allgemeinen Konsum anging – bescheiden lebte, für die aber alle kulturellen Möglichkeiten – Museen, Theater, Konzerte und Bücher – erschwinglich und zugänglich waren, eine Jugend, die von ihrem Staat vor Drogen und Pornographie ängstlich behütet wurde, eine naivere, unschuldigere, aber auch unselbständigere Jugend.

Sie stand politisch übrigens in hohem Prozentsatz zu diesem Staat und zum Sozialismus, wie ich 1987 aus den geheimen Akten des Leipziger Jugendforschungs­instituts entnahm, in die ich mir anläßlich eines Vortrages, den ich in Moskau auf dem Internationalen Kongreß der IPPNW (International Physicians for the Prevention of Nuclear War) halten sollte, Einblick verschaffen konnte. Mein Thema sollte sich mit den Ängsten und Hoffnungen der DDR-Jugend bezüglich ihrer eigenen Zukunft und der der Menschheit allgemein befassen. Das Institut hatte wissenschaftlich ausgezeichnet angelegte statistische Großerhebungen gemacht, dreitägige anonyme Querschnittsbefragungen aus allen Sparten der Jugend, aus Stadt und Land. Daraus ging hervor, daß die Erwartungen des DDR-Staates in seine Jugend nicht getäuscht wurden.

Ich wehre mich auch ausdrücklich gegen eine Kritik an einem „verordneten Antifaschismus“. Dieser sollte sogar so lange verordnet werden, bis er zur allgemeinen Herzenssache aller geworden ist. Davon sind wir jetzt wieder weiter entfernt als vor Jahrzehnten in der DDR. Ich habe mich im Ausland immer gerühmt, in dem einzigen Land der Erde zu leben, in dem mir kein Antisemitismus begegnet. Nur zweimal erfuhr ich ihn hier – das erste Mal ganz am Anfang nach unserer Übersiedlung in die DDR.

Die Jugend der DDR wuchs auf ohne Antisemitismus, aber auch ohne Kenntnis der Juden, ihrer Bräuche, ihrer Religion und Geschichte. Die sechs Millionen ermordeten Juden galten für sie als tragischer und beschämender Teil der Gesamtmordopfer der Nazis, passive Opfer zumeist, aber auch ermordete Helden zum Beispiel des Warschauer Ghettos; sie galten zudem als Vertriebene und Flüchtlinge, aber auch als Begründer einer Heimstätte in Palästina.

Das Schulsystem der DDR hatte die alte marxistische Idee von der kombinierten Vermittlung von Wissen und Können, von Kopf und Hand, vom Kontakt des Schülers mit der Arbeiterklasse aufgegriffen. So gab es im Lehrplan den „Tag in der Produktion“.

Was die mathematisch-naturwissenschaftliche Ausbildung in den DDR-Schulen betraf, so war sie ausgezeichnet. Kinder, die aus irgendwelchen Gründen in westliche Schulen überwechselten, hatten in diesen Fächern dort nie Schwierigkeiten. Das hat sich nach der „Vereinigung“ der beiden deutschen Staaten und der Übernahme der Lehrpläne aus den alten Bundesländern merklich verändert.

Trotz meiner eindeutig positiven Gesamteinstellung zum Bildungs- und Erziehungssystem der DDR habe ich jedoch auch tiefgehende und oft sogar schmerzliche Kritik daran zu üben.

Eine Bevorzugung von Arbeiterkindern war zunächst wohl verständlich. Unzweifelhaft waren Arbeiter- und Bauernkinder in der Entwicklung und Verwirklichung ihrer Fähigkeiten und Talente allein durch ihr Elternhaus im Nachteil. Sie an ihren Leistungen mit Kindern aus intellektuellen, auch wohlhabenderen Schichten zu messen, hätte sicher zu Ungerechtigkeiten führen können. Es besteht kein Zweifel, daß Arbeiterkinder noch lange über das Kriegsende hinaus im Nachteil waren. Zu Hause fehlten ihnen oft nicht nur die geistigen Anregungen und Hilfen, sondern auch die Erkennung und Wertung besonderer Talente. Diese Tatsachen sind sicherlich wichtige Beweggründe bei der Quotierung für höhere Bildungschancen zugunsten von Arbeiter- und Bauernkindern gewesen. Aus einer sozial richtigen Förderung der benachteiligten Arbeiter- und Bauernkinder wurde später zum Teil eine bürokratische Barriere für die Kinder anderer Bevölkerungsschichten.

Der Sprachunterricht begann für alle Kinder mit Russisch. Im Gegensatz zu fast allen nichtsozialistischen Ländern, in denen Englisch die erste Fremdsprache ist – eine Sprache mit zwar schwieriger Orthographie und einem riesigen Schatz an Synonymen, aber doch relativ einfacher Grammatik –, begannen unsere Kinder mit einer ungemein komplizierten, grammatikalisch sehr differenzierten und dem Deutschen völlig unähnlichen Sprache. Der Unterricht war in der Regel – besonders in den ersten Jahren der DDR – sehr mittelmäßig, da die Lehrer zum Teil nicht die Möglichkeit erhielten, ihre Sprachkenntnisse im Ausland selbst zu vervollkommnen. Letzteres galt in noch stärkerem Maße für Lehrer westlicher Fremdsprachen. Der Endeffekt war, daß die Kinder schlecht Russisch sprechen konnten und daß bis in die späten siebziger Jahre selbst auf den Universitäten ein miserables Englisch vorherrschte.

Vielleicht sind meine Eindrücke laienhaft, und meine Beurteilung über eine Sparte des Lebens, die ich mit Sicherheit nur mangelhaft übersehe, ist unbescheiden.

Haben wir die Kinder und Jugendlichen nicht auch zu sehr geleitet, für sie geplant, ihnen zuwenig individuelle Freiheit für ihre eigene Phantasie, Spiele und geistigen Entdeckungen gegeben?

Haben wir die Labilität und Verführbarkeit der DDR-Jugend nach der „Wende“ nicht selbst erzeugt, dadurch, daß wir ihr zuwenig Chancen gaben, die Realitäten der Welt zu sehen, Alternativen zu überprüfen?

Haben wir zu oft die großen – wenn auch wahrhaftigen – Worte für eine bessere Welt wiederholt und versäumt, die Kinder ganz praktisch zu einem ehrlichen Dialog mit ihren Großeltern über deren Vergangenheit anzuhalten, so daß der Antifaschismus der Enkelgeneration möglicherweise auf einer tönernen Basis stand?

Wenn ich diese Liste meiner kritischen Gedanken noch einmal überdenke, muß ich mich fragen, ob ich wirklich so positiv zu unserem Schulsystem stehe oder gestanden habe. Ich habe immer den Grundtenor der DDR in mir gespürt: die Liebe zur Jugend, das echte, wahrhafte Bemühen für eine humanistische Zukunft der neuen Generation, die Vision eines besseren Deutschlands. Alle Fehler und Mißstände empfand ich als temporär, nicht durch den Kern der Dinge bestimmt, und vor allem mit Sicherheit überwindbar. Diese feste Überzeugung durchdrang alles wie ein hoffnungsvoller Aufbruch und widerstand jeglicher Möglichkeit einer trüben, bösen oder resignierenden Summierung einzelner Unzulänglichkeiten.

Redaktionell bearbeitet. Aus „Heimat DDR“ (Spuren der Wahrheit, Bd. 11), GNN-Verlag, Schkeuditz 2015