RotFuchs 188 – September 2013

Nahtloser Übergang vom Antisowjetismus zur Russen-Phobie

Torsten Scharmann

Schon wieder neue Nachrichten aus Putins Reich, bei denen allen Demokraten des Berliner Regierungsensembles das Blut in den Adern gefriert. Ihren Wählern natürlich auch:

  1. Da baut sich der mächtigste Mann der Welt vor Berlins Brandenburger Tor auf, um eine Abrüstungsinitiative zu verkünden. Doch auf Obamas heldisches Vorbringen erschallte aus dem Moskauer Kreml nicht sofort bedingungslose Zustimmung.
  2. Die russische Polizei stürmt das Büro einer als Menschenrechtsorganisation firmierenden Gruppe. „Wir Europäer“ verurteilen dieses Vorgehen.
  3. Rußland hält an der Unterstützung des syrischen „Assad-Regimes“ fest und liefert weiter Waffen an den Machthaber in Damaskus.
  4. Bundeskanzlerin Merkel redet mit Putin „Klartext“ zum Thema „Beutekunst“.

Das Verhältnis der beiden Regierungen scheint im argen zu liegen. Das mächtige Deutschland stellt die eigenen Ansichten klar, worauf aus Moskau offensichtlich immer nur Reaktionen – und zwar die falschen – gesendet werden. Verblüffend ist, daß die Regierung der BRD mit „deutlichen Worten“ auftritt. Vielleicht sollte darüber noch einmal nachgedacht werden, damit sich die Reaktionen aus Moskau besser einordnen lassen.

Denn offensichtlich ist man in Berlin sehr wohl dazu imstande, mit Israel einen durchaus gemäßigten Umgangston zu pflegen und jede Art von substantieller Kritik vollständig auszublenden – zum Beispiel in bezug auf Tel Avivs Machtgelüste in den seit 1967 widerrechtlich besetzten arabischen Gebieten. Hier ist – angesichts der Verbrechen der Deutschen am jüdischen Volk – durchaus Zurückhaltung angesagt.

Ich frage mich aber seit Jahrzehnten, ob dieses Maß der Scham nicht auch gegenüber den Völkern der früheren Sowjetunion angebracht wäre. Doch mittlerweile gehört es wohl zum guten Ton, die 25 Millionen, vielleicht sogar weit mehr Opfer, die der vom deutschen Faschismus entfesselte Zweite Weltkrieg dort gefordert hatte, zu übergehen und die alten Feindbilder wieder aufleben zu lassen. Mit und ohne Bolschewiki an der Macht! Inzwischen darf ungestraft über die „Putin-Diktatur“ gesprochen und geschrieben werden. Sogar der Begriff „Beutekunst“ ist in vieler Munde, obwohl damit unterstellt wird, daß die Sowjetarmee diese Schätze völkerrechtswidrig in ihren Besitz gebracht hat. Eine Bemerkung dazu: Zu Recht wird von russischer Seite darauf verwiesen, daß die deutschen Eindringlinge unermeßliche Kunstschätze der UdSSR geraubt oder vernichtet haben, so daß nach dem Sieg nur in geringem Maße ein Ausgleich für die erlittenen Verluste geschaffen worden ist. Wir haben es hier mit einem massiven Eingriff in die Hoheitsrechte eines souveränen Staates zu tun.

Doch reden wir weiter ohne Umschweife: Das Büro einer sich als Menschenrechtsorganisation darstellenden Vereinigung wurde von Polizisten geräumt. Sofort hieß es, in Rußland würden die Menschenrechte mit Füßen getreten. Wenn man indes sein Ohr den wenigen Bekanntmachungen in der deutschen Presse leiht, handelt es sich darum, daß aus dem westlichen Ausland ohne alle Skrupel Geld in Vereine fließt, um deren oppositionelle Politik zu finanzieren. Von den meisten Staaten der Welt wird ein derartiges Vorgehen als Einmischung in innere Angelegenheiten betrachtet. Selbstverständlich hat in einem solchen Falle jeder Staat das Recht, gegen derartige Einflußnahme vorzugehen.

Mit erheblicher Skepsis dürfte im Generalstab der russischen Streitkräfte auch der zweifellos publikumswirksame Vorschlag Barack Obamas zur Reduzierung der Atomwaffenbestände aufgenommen worden sein, enthält er doch nicht das Angebot, Hunderte von Stützpunkten rund um Rußland schließen zu wollen. Es ist ein Leichtes, Waffen gegeneinander aufzurechnen, dabei aber auf den strategischen Vorteil nicht zu verzichten. Zum Beispiel kam der US-Präsident auch nicht darauf zu sprechen, die Atom-U-Boot-Flotte seiner Navy zu reduzieren oder die Stützpunkte in Japan aufzugeben. Daher dürfte es für Rußland äußerst riskant sein, sich auf ein solches „Abrüstungs“-Angebot einzulassen.

Ganz anders liegen die Dinge um Syrien. Zu Recht sympathisieren Menschen in aller Welt mit der russischen Position in diesem Konflikt: Das souveräne Syrien erwehrt sich einer Invasion von „Gotteskriegern“, unter denen viele durch Damaskus feindlich gesonnene Mächte finanziert und versorgt werden. Diese Tatsache ist unbestreitbar. Trotz aller Greuelpropaganda stehen nach Berichten politischer Beobachter immer noch drei Viertel des syrischen Volkes zur Regierung Assad. Dies wurde auch durch eine bisher nicht veröffentlichte NATO-Studie belegt. Daher, aber auch aus begreiflichen Gründen wie der Abneigung, in den von „Rebellen“ besetzten Gebieten nach den Regeln der Scharia leben zu müssen, ist die Forderung, tatenlos zuzusehen, wie Assads Gegner ohne jede Hemmschwelle mit Waffen versorgt werden, vollkommen unannehmbar.

In diesem Zusammenhang wird oft geringschätzig vom „Assad-Regime“ gesprochen, obwohl dem syrischen Präsidenten keine Menschenrechtsverstöße vorgeworfen werden können. Behauptungen dieser Art sind konstruiert. Vielmehr sollten wir in dieser Frage Verständnis für die von Moskau eingenommene Position zeigen. Nicht ohne Grund befürchtet die russische Führung übrigens eine massive Einflußnahme militant-islamistischer Kräfte bis in den Süden ihres Landes. Ganz zu schweigen davon, daß mit den Waffen, die jetzt an die „Rebellen“ geliefert werden, ein neues Bedrohungspotential entsteht, das nicht nur regionaler Natur ist.

Alles in allem zeigt sich, daß kein Weg daran vorbeiführt, gemeinsam mit der russischen Regierung die genannten Aspekte der angespannten Weltlage im Auge zu behalten. Der derzeitige Berliner Kurs einer arroganten Herabwürdigung russischer Positionen und Interessen bedarf einer Abfuhr seitens aller Friedenskräfte.