RotFuchs 198 – Juli 2014

Zur Kontinuität des Rechtsextremismus in Deutschland

Nicht nur in braunen Stiefeln

Prof. Dr. Georg Grasnick

Mehr als 80 Jahre nach der Machtauslieferung an die Hitlerfaschisten versucht ein parlamentarischer Untersuchungsausschuß die Verstrickung bundesdeutscher Behörden in das nazistische Netzwerk um die NSU-Mörder zu entwirren. Zur gleichen Zeit werden Ergebnisse neuer repräsentativer Umfragen über den Verbreitungsgrad „rassistischer und völkischer Vorurteile“ in der BRD-Gesellschaft bekannt. Danach vertreten 25,1 % der Deutschen schlechthin ausländerfeindliche und 36 % antiislamische Auffassungen. Jeder fünfte Bundesbürger sei „gegen Juden“ eingestellt, jeder zehnte besitze ein rechtsextremes Weltbild.

Derartige „Vorurteile“ entstehen natürlich nicht im stillen Kämmerlein. Das ideologische Umfeld dafür ist auf entsprechendem sozial-ökonomischem Nährboden historisch gewachsen.

Seit der mit „Blut und Eisen“ herbeigeführten Gründung des Deutschen Reiches 1870/71 verläuft eine Kontinuitätslinie bis in unsere Tage. Da beschwor Oswald Spengler das „Deutschtum“, erhob Treitschke den Schlachtruf „Die Juden sind unser Unglück“, strebte der deutsche Imperialismus im Ersten Weltkrieg nach einem „Platz an der Sonne“, damit „am deutschen Wesen die Welt genesen“ könne. Da setzten faschistische „Herrenmenschen“, gestützt auf eine imaginäre „Volksgemeinschaft“ und „gesundes Volksempfinden“, mit dem Zweiten Weltkrieg das „Neuordnungswerk“ fort. Heute, so krakeelten sie, gehöre ihnen Deutschland und „morgen die ganze Welt“. 55 Millionen Opfer markierten die Blutspur des vom faschistischen deutschen Imperialismus geführten Vernichtungs- und Ressourcenkrieges.

Nach der militärischen Niederlage Nazideutschlands blieben im Separatstaat BRD die alten Macht- und Eigentumsverhältnisse unangetastet. Er wurde – den Vorgaben der US-Strategie folgend – sukzessive zum „Bollwerk gegen den Kommunismus“ und als Aufmarschbasis gegen die sozialistischen Staaten Europas ausgebaut. Da waren die erfahrenen Experten der „Vorwärtsverteidigung“ wieder gefragt. In Politik, Justiz, Militär, Polizei und Geheimdiensten sicherte man weitestgehend die personelle Kontinuität. „Fachleute“ aus den Reihen im Nürnberger Prozeß als verbrecherisch bezeichneter Organisationen nahmen von Beginn an Schlüsselstellungen ein. So setzte sich die Leitungsebene des Bundeskriminalamtes noch 1959 zu 56 Prozent aus ehemaligen SS-Angehörigen zusammen; 75 Prozent hatten der Nazi-Partei angehört. Im Verfassungsschutz war 1963 jeder fünfte bis sechste Beamte ein früherer SS-Offizier.

Zur Kontinuität gehörte auch der Antikommunismus als Staatsdoktrin der BRD. Getreu der Devise „Der Feind steht links“ wurde im August 1956 die KPD – die Partei der antifaschistischen Helden – verboten. Es paßte durchaus zum Bonner Grundverständnis, daß nur wenige Jahre nach der Illegalisierung der KPD die faschistische NPD zugelassen wurde und deren Aufnahme in das bundesdeutsche Parteiensystem erfolgte. 1962 beschlossen die Kultusminister der BRD-Länder auf antikommunistische Indoktrination der Schüler zielende „Richtlinien für die Behandlung des Totalitarismus“ im Unterricht“.

Eine weitere Ursache der alle Dimensionen sprengenden Fremdenfeindlichkeit sind „völkische Vorurteile“, Deutschtümelei und Rassismus, die vor allem von rechtskonservativen Wissenschaftlern und Publizisten verbreitet werden. Führende Vertreter des politischen Establishments betätigen sich dabei immer wieder als Stichwortgeber.

Schon vor anderthalb Jahrzehnten „warnte“ Edmund Stoiber (CSU) vor einer „durchmischten und durchrassten Gesellschaft auf deutschem Boden“. General Jörg Schönbohm (CDU) ergänzte: „Die Identität der Bundesrepublik Deutschland als Nationalstaat der Deutschen darf nicht zur Disposition stehen.“ Klaus Landowsky, von 1991 bis 2001 CDU-Fraktionschef im Berliner Abgeordnetenhaus, hetzte: „Es ist nun mal so: Wo Müll ist, sind Ratten, und wo Verwahrlosung ist, ist Gesindel, und das muß beseitigt werden in der Stadt.“ Als Bundeskanzler befand Gerhard Schröder (SPD): „Das Boot ist voll!“ Jürgen Rüttgers (CDU) forderte als nordrheinwestfälischer Ministerpräsident: „Kinder statt Inder an die Computer!“ Hessens früherer Regierungschef Roland Koch (CDU) äußerte, Deutschland habe ein „seltsames soziologisches Verständnis für Gruppen aufgebracht, die bewußt als ethnische Minderheiten Gewalt ausüben“, und Ernst Huber (CSU) meinte: „Multikulti ist die Brutstätte von Kriminalität.“

Auch Angela Merkel (CDU) durfte bei dieser Kakophonie nicht fehlen. „Der Ansatz für Multikulti ist gescheitert, absolut gescheitert“, gab sie von sich. Als „Krisenmanagerin“ benutzte die Kanzlerin eine vordergründige nationalistische Tonart bei der Darlegung des deutschen Spardiktats, als sie Griechen, Portugiesen und Spaniern vorwarf, sich nicht genügend anzustrengen, zu lange Urlaub zu nehmen und zu früh in Rente zu gehen. „Alle müssen sich an die Regeln halten“, proklamierte sie.

Die Urheber einer wochenlang gegen die „faulen Griechen“ gerichteten Kampagne der Springerschen „Bild“-Zeitung erhielten für ihre „sorgfältige Auswahl und Deutung von Fakten“ den mit 10 000 Euro dotierten Herbert-Quandt-Preis. Ex-Bundesinnenminister Friedrich warf unmittelbar nach der immer wieder hinausgezögerten Enthüllung eines Denkmals für vom deutschen Faschismus ermordete Sinti und Roma den aus Balkanländern in die BRD gekommenen Menschen dieser Volkszugehörigkeit „ein Ausnutzen unseres Systems“ und „Mißbrauch“ vor.

Eine ständige Verbreitung offen rassistischer Positionen erfolgt seit Jahr und Tag über Zeitungen, Pamphlete und Internetseiten der NPD. Leute wie Sarrazin erhalten für ihre ausländerfeindlichen und sozialdarwinistischen Auslassungen von den Medien des Kapitals jegliche Unterstützung.

Justiz, Verfassungsschutz und Polizei sind traditionell auf dem rechten Auge blind. Inzwischen wurde ihr linkes Feindbild durch Islamophobie vervollständigt.

Wie es in der Praxis aussieht, wird durch die Tatsache erhellt, daß die Bundesanwaltschaft im zurückliegenden Jahrzehnt nur 13 Ermittlungsverfahren im „Bereich Rechtsextremismus“, aber 700 im „Bereich Islamismus und Linksterrorismus“ durchgeführt hat! In den vergangenen zwei Jahrzehnten wurden mehr als 180 Menschen – Ausländer, Migranten, Arbeits- und Obdachlose – von Nazis umgebracht. Die offizielle Statistik weist allerdings nur einen geringen Teil dieser Fälle als politische Verbrechen aus. Während der NSU-Mordserie kamen die zuständigen Behörden überhaupt nicht auf den Gedanken, die Verbrechen könnten einen rassistischen Hintergrund haben. So wurden die Täter fast automatisch im „familiären Milieu“ der Opfer gesucht. Die Medien erfanden den Begriff „Dönermorde“. Der Chef der CDU-Bundestagsfraktion Kauder war bemüht, die rechtsextremistischen Untaten neuer Dimension kleinzureden. Er verlangte, nicht zuzulassen, „daß das positive Bild von Deutschland durch ein paar solche Verbrecher Kratzer bekommt“. In dieses „positive Bild“ paßt durchaus, daß es bisher keine der Bundesregierungen für erforderlich gehalten hätte, jeweils mahnend an die nazistischen und rassistischen Verbrechen von Mölln, Solingen, Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda zu erinnern oder gar ein neues Verbotsverfahren gegen die NPD ernsthaft zu betreiben. V-Leute haben Millionen Euro kassiert – Gelder, die dann großenteils faschistischen Gruppierungen zugute kamen. Keines der rassistischen und faschistischen Verbrechen wurde jedoch durch sie verhindert. 1997 war in einem Thesenpapier des BKA darauf hingewiesen worden, daß „Zuträger des Verfassungsschutzes immer wieder als Organisatoren oder Führungsfiguren rechter Aktionen aufgefallen“ seien.

Bundesinnenminister Friedrich schuf jedoch eine „neue Sicherheitsarchitektur“: die Vernetzung von Polizei und Verfassungsschutz auf dem Gebiet der Information. Ein gemeinsames „Extremismus- und Terrorismus-Abwehrzentrum“ (GETZ) wurde eingerichtet, wodurch das von den westlichen Besatzungsbehörden einst verfügte Trennungsgebot zwischen Polizei und Geheimdiensten negiert wurde. Dieses war ursprünglich mit Blick auf die Verbrechen der faschistischen Geheimen Staatspolizei (Gestapo) erlassen worden.

Die Kehrseite der Vernachlässigung des Kampfes gegen den Rechtsextremismus bestand schon immer darin, echte Linkskräfte mit „Linksterrorismus“ in Verbindung zu setzen. Dieser Terminus kommt den angeblichen Verfassungsschützern sehr schnell von den Lippen. Minister Friedrich wies seinerzeit Bedenken zurück, der Kampf gegen Linke könne angesichts der umfangreichen Befassung mit den NSU-Verbrechen zu kurz kommen. „Sie brauchen keine Angst zu haben“, erklärte das seinerzeitige CSU-Kabinettsmitglied. „Wir werden auch den Kampf gegen den Linksextremismus verstärken.“

Ein Beispiel dieses „verstärkten Kampfes“ lieferte im Sommer 2012 die dem Innenministerium unterstellte Bundeszentrale für politische Bildung. Sie zeigte monatelang im Internet einen Videofilm über „Politischen Extremismus“. Dort „definierte“ man zunächst, was Extremisten seien: „Religiöse Fanatiker, Linke und Rechte an den Rändern der Gesellschaft.“ Weiter hieß es: „Es herrscht Bombenstimmung in Deutschland. Die Linken fackeln Luxuskarossen ab, die Rechten kontern mit den sogenannten Dönermorden.“

Am „verstärkten Kampf gegen Linksextremismus“ beteiligte sich auch das Haus der seinerzeitigen Bundesfamilienministerin Schröder. Es kreierte die „Extremismus-Klausel“. Politische und soziale Initiativen sollten danach nicht nur von „ihren Partnern“ wie bisher ein Bekenntnis zur „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ verlangen, sondern auch 50 % Eigenmittel nachweisen, wenn sie Zuschüsse für Aufklärungsarbeit gegen rechtsradikale Aktivitäten erhalten wollen. In der Auseinandersetzung mit Linken reichen indes schon 10 % aus!

Zum Ritual des Kampfes gegen Antifaschisten gehört es längst, daß die Polizei Aufmärsche der Nazis vor ihnen schützt, Sitzblockaden auflöst und deren Aktivisten gerichtlich verfolgen läßt. All diese Willkürakte werden von der Totalitarismusdoktrin flankiert, mit der die Dauerkampagne zur Delegitimierung der DDR und ihrer Gleichsetzung mit der braunen Diktatur gerechtfertigt werden soll. 2008 beschloß der 22. CDU-Parteitag in Stuttgart ein „Grundsatzdokument“. In diesem ging es darum, „der zunehmenden Verklärung (!) der DDR-Geschichte“ zu begegnen.

Es ist doch merkwürdig: Da gelten seit fast einem halben Jahrhundert „Richtlinien für die Behandlung des Totalitarismus“ im Unterricht; da schwingt jahrzehntelang eine in Sachen Massenbeeinflussung perfektionierte „Bewußtseinsindustrie“ unermüdlich die „Stasi-Keule“; da werden Schüler ohne Unterlaß durch Knabes infames Gruselkabinett geschleust. Und dennoch muß ein CDU-Parteitag „zunehmende Verklärung der DDR-Geschichte“ konstatieren und damit eingestehen: Die sozialistische Idee und die Erinnerung an die erlebte und gelebte Zielsetzung der DDR sind einfach nicht totzubekommen. „Die Geschichte der Teilung und der SED-Diktatur“, so der CDU-Parteitagsbeschluß, müsse „zentraler Inhalt des Schulunterrichts in ganz Deutschland werden“. Sicher gehört zur „Vermittlung dieser Geschichte“ nicht die Erwähnung des Spalter-Credos eines Konrad Adenauer. Der CDU-Vorsitzende und erste Bundeskanzler formulierte es so: „Lieber das halbe Deutschland ganz als das ganze Deutschland halb.“

Im Wissenschaftsbereich erhält die Totalitarismusdoktrin durch Einrichtung eines eigenen Lehrstuhls für dieses „Fach“ an einer Universität der BRD-Hauptstadt jenen Stellenwert, welcher für die kontinuierliche Pflege des Antikommunismus erforderlich zu sein scheint. Hier soll die „Erforschung und wissenschaftliche Aufarbeitung des DDR-Unrechtsstaates dauerhaft gewährleistet“ sein. Filmproduktionen sowie „feste Programmplätze zur Hauptsendezeit in ARD und ZDF“ wurden für die Verbreitung entsprechender Beiträge eingefordert.

Die Jahre seit dem Beschluß des 22. CDU-Parteitags haben hinreichend unter Beweis gestellt, in welchem Maße Filmwesen und „öffentlich-rechtliche“ Sendeanstalten den Vorgaben dieser Partei gefolgt sind. Einmal mehr zeigte sich, daß der Antikommunismus besonders in Krisenzeiten Hochkonjunktur hat, um von den Gebrechen und Verbrechen des Imperialismus abzulenken.

Zum kontinentalen Machtanspruch Berlins („Wir sind Europa“) gesellt sich extremer Nationalismus, der alte Ziele Großdeutschlands erneut deklariert. Man ist wie der frühere SPD-Finanzminister Eichel davon überzeugt, daß sich „Europa“ nichts sehnlicher wünscht als eine „deutsche Führung“. Die Chefin der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Hasselfeldt, verkündete: „Die deutsche Stabilitätskultur muß Vorbild sein für Europa. Wir brauchen eben nicht weniger Europa, sondern mehr Deutschland in Europa.“ Zum „Klassiker“ des Berliner Chauvinismus wurde der Jubelruf des CDU-Fraktionschefs Volker Kauder im Bundestag: „Jetzt wird in Europa wieder deutsch gesprochen.“

Als EU-Zuchtmeisterin hatte die Bundeskanzlerin den Völkern Süd- und Südosteuropas zu verstehen gegeben, daß zur Führung auch „deutsche Disziplin und Tugend“ gehörten. Im In- und Ausland konnte dieser nationalistische Wahn nicht ohne Resonanz bleiben. In einigen EU-Mitgliedsländern wurden böse Erinnerungen an die Zeit der Nazi-Okkupation wach. Eine griechische Zeitung kommentierte: „Der Traum, Europa zu erobern, ist in Deutschland wieder da. Das Werkzeug ist dieses Mal nicht die Wehrmacht!“

Vieles spricht dafür, daß die von höchster politischer Ebene formulierten „völkischen Vorurteile“ und das provozierend zur Schau gestellte Deutschtum ohne Zweifel zu der in aktuellen Meinungsumfragen sichtbar gewordenen Tendenz des deutlichen Anwachsens rechtsextremer und faschistoider Auffassungen beigetragen haben.

Mehr als 81 Jahre nach der Machtauslieferung an die Hitlerfaschisten und fast 75 Jahre nach dem Beginn des von ihnen angezettelten mörderischen Zweiten Weltkriegs fehlt es den heute in Deutschland Regierenden an jeglicher Bereitschaft, auch nur elementare Lehren und Schlußfolgerungen aus reaktionärer Vergangenheit und rechtsextremistischem Terror unserer Tage zu ziehen. Dieser Kurs ist kreuzgefährlich.