RotFuchs 207 – April 2015

Oktober 1993:
Als Jelzins T-72 Schrecken säten

Dr. Vera Butler

Die in Frankreich erscheinende Zeitschrift „Le Monde diplomatique“ erinnerte unlängst an die Moskauer Geschehnisse unter Präsident Boris Jelzin im Oktober 1993. „Wir dulden die innere Opposition nicht mehr. Wir müssen uns derer entledigen, die nicht unseren Weg mitgehen.“ Als der erste Präsident der neuen Russischen Föderation, Boris Jelzin, dies von sich gab, zielten bereits seit Tagen Panzer vom Typ T-72 auf das Gebäude, in dem der Kongreß der Volksdeputierten und der Oberste Sowjet tagten. Seit dem 4. Oktober schmetterten die Maschinengewehre ihre Salven. Einige Spezialkommandos lehnten es ab, Zivilisten in der Nähe des „Weißen Hauses“ anzugreifen. Doch auf Befehl von Verteidigungsminister Gratschow feuerten die Panzerkanonen. Das Gebäude spie Rauch und wurde schwarz von Ruß. Erste Abgeordnete ergaben sich, während man Tote und Verwundete wegbrachte.

Dieses Kapitel der Geschichte des postsowjetischen Rußland vollzog sich vor Kameras aus aller Welt. Nach offiziellen Angaben forderte Jelzins „Sieg der Demokratie“ 123 Tote. Andere Quellen zogen eine noch schrecklichere Bilanz und sprachen von bis zu 1500 Opfern. Es gab Straßenkämpfe, Jagden auf „Illegale“ durch ganz Moskau, besonders auf Kaukasier, die in großer Zahl festgenommen wurden. Prof. Valeri Kudinow bestätigte die Zahl von 1500 Menschen, die durch Jelzins Schergen ihr Leben verloren – oft nur als Zuschauer am Rande des Geschehens. Sonderkommandos der Polizei und der Armee sowie nicht identifizierte Männer in Tarnkleidung waren in der Nacht vom 4. zum 5. Oktober im Moskauer Zentrum unterwegs, um Jagd auf „Feinde“ zu machen.

Am 3. Oktober stürmten Hunderte empörte Moskauer die Polizeiketten um das „Weiße Haus“, wo sich die rebellischen Abgeordneten aufhielten. Von dessen Balkon aus forderte der russische Vizepräsident Rutskoi die Unterstützer auf, das Fernsehzentrum Ostankino – „dieses Nest des Übels“ – zu besetzen. Als sie dort ankamen, wurden sie bereits von einer Spezialtruppe erwartet, die hinterrücks das Feuer auf die Menge eröffnete. Etwa 300 Menschen fanden den Tod oder wurden schwer verwundet. Prof. Kudinow forderte die Leser von „Le Monde diplomatique“ auf, die Druschinnikowskaja-Gasse aufzusuchen, wo mehr als tausend inzwischen ausgeblichene Schwarz-Weiß-Aufnahmen der Toten oder Verschwundenen von deren Angehörigen ausgestellt sind.

Ein neuer Zaun um das Fußballstadion „Krasnaja Presnja“ ersetzte den alten, weil der auf Menschenhöhe voller Einschußlöcher gewesen war. Hier hatten Polizisten und „Freiwillige“ jene hingerichtet, welche aus dem „Weißen Haus“ durch die Hintertür entkommen wollten. Der alte Zaun war ein überflüssiger Zeuge von Jelzins „Verteidigung der Demokratie“ und mußte nach dem Blutvergießen verschwinden. Es ist die Rede davon, daß zwei Nächte nach dem Beschuß des russischen Parlaments Flöße voller Leichen auf der Moskwa trieben.

Übrigens: Vom Schauplatz des Geschehens am 4. Oktober 1993 waren es nur wenige hundert Meter zur Botschaft der USA. Deren Nachrichtenagentur CNN sorgte für die ständige Kolportage dessen, was sich ereignete.

Gestützt auf „Le Monde diplomatique“ und „Le Monde“, Paris