RotFuchs 220 – Mai 2016

Über Fernsehgeräte am Armband
und „pseudoradikale Durchreißer“

Plädoyer für realistische Träume

Jürgen Schewe

Die Betrachtungen Klaus Steinigers „Wiederholt sich die Geschichte?“ im Februar-„RotFuchs“ regen mich zu weiteren Überlegungen an – das ist und bleibt das Gute an dieser Tribüne für den Meinungsaustausch unter Kommunisten und Sozialisten.

Wenn ein „umstrittener Moskauer Spitzenpolitiker … ungeachtet eklatanter Versorgungslücken verkündete, bis 1980 werde der Aufbau des Kommunismus in der UdSSR abgeschlossen sein“, dann vertrat er damit nicht nur sich selbst, sondern zugleich die seit 1961 gefaßten Beschlüsse einer Viel-Millionen-Partei, gestützt auf alle in dem großen Land vorhandenen wissenschaftlichen Kapazitäten. Die Tätigkeit von 225 Millionen Menschen war so oder so auf dieses Ziel gerichtet, manches davon wurde auch erreicht.

Es handelte sich also bei den Parteitagsbeschlüssen zugleich auch um einen kollektiven Irrtum, der vielleicht nur am lautesten von „pseudoradikalen Durchreißern‘“ artikuliert wurde. Vermutlich bin ich diesen Genossen bei unseren Kontakten zur Moskauer Parteiorganisation sogar begegnet. „Brigaden der kommunistischen Arbeit“ stärken, die Metropole Moskau zur „ersten Hauptstadt des Kommunismus“ machen – Parolen dieser Art bestimmten die Tätigkeit unserer sowjetischen Partner. Aber auch wir wollten davon lernen und unterstützten solche Zielstellungen.

Ich bewahre bis heute die „Junge Welt“ vom 14./15. Oktober 1961 auf. Sie besteht aus einer fiktiven Ausgabe des Blattes, vorverlegt auf den 14.10.1980. FDGB-Reisen nach Afrika bot man dort an, aber auch „Fernsehgeräte am Armband“, die erste Marslandung, die Bewässerung der Sahara und das Wirken der SDR, der Sozialistischen Deutschen Republik. Man beschrieb sie als Ergebnisse des vollendeten Kommunismus, untersetzt mit einem erfüllten Plan von 250 Millionen Tonnen Stahl. Jugend soll träumen. Doch nicht nur sie träumte …

Zum ersten Mal bin ich einer für die Errichtung des Kommunismus definierten Zeitspanne begegnet, als Stalin in seiner weitverbreiteten Rede vor Wählern Anfang 1946 dafür eine Frist von etwa drei Fünfjahrplänen nannte (was einem Beschluß des noch nicht einberufenen Parteitages gleichkam).

Als damals 15jähriger würde ich dann „steinalt“ sein und hielt dies noch für einen erträglichen Horizont. Wie viele andere interessierte ich mich für die „Großbauten des Kommunismus“ wie z. B. den Wolga-Don-Kanal.

Nach Ablauf der 15 Jahre stellte sich die KPdSU 1961 das Ziel, den Kommunismus innerhalb von 20 Jahren zu errichten. Sie tat es mit dem Vorbehalt, vom Imperialismus aufgezwungene Lasten würden das verhindern können.

Danach beschloß die KPdSU die Perestroika. Das aktuelle Kommunismusverständnis der KPRF kenne ich noch nicht.

Anfang der 80er Jahre resümierte unser verehrter Jürgen Kuczynski, ohne dabei auf Widerspruch in der SED-Führung zu stoßen: „Keiner der heute Lebenden wird den Kommunismus erleben.“ Ich schloß daraus: Vor 2050 wird es nichts.

Heute bin ich der Überzeugung, daß die Idee des Kommunismus in der uns von Marx und Engels überlieferten Form neu hinterfragt werden muß – auch als parteienkonstituierender Begriff. Und das eingedenk dessen, daß es auch ein Kommunismus-Verständnis universeller Art gibt, das zeitlich noch vor der Bibel ansetzt. Es bleibt die Notwendigkeit einer ausbeutungsfreien, friedlichen, demokratischen Gesellschaft, die die Menschheit vor der „Selbstverbrennung“ bewahrt. Dafür sind Mittel und Wege zu finden.

Müssen wir uns für unsere gemeinsamen Irrtümer schämen? Nein, denn die Suche nach Wahrheit geht überall schrittweise voran. „Trial and error“ – Versuch und Irrtum (und wieder ein neuer Versuch!) ist die Erkenntnismethode, die zwar den Natur- und technischen Wissenschaften ohne weiteres zugestanden wird, nicht aber den Gesellschaftswissenschaften.

Vor kurzem las ich wieder in Lenins „,Linkem Radikalismus‘ …“. Wieviel bis heute Gültiges über Kompromisse! Wie einprägsam sein bildhafter Vergleich: Der Weg zur neuen Gesellschaft ist wie der Aufstieg auf einen unerforschten hohen Berg. Keiner war bisher dort, niemand kennt jenen Weg, welcher schließlich zum Gipfel führen wird. Darf man bei einem solchen Vorhaben „… darauf verzichten, manchmal im Zickzack zu gehen, manchmal umzukehren, die einmal gewählte Richtung aufzugeben und verschiedene Richtungen zu versuchen?“ (LW, Bd. 31, S. 56)

Ja, wir hätten umfassender, realistischer analysieren und danach handeln müssen. Wir können es nun mit neuen Erkenntnissen und Erfahrungen tun. Wenn die evangelische Bischofssynode nach 500 Jahren zu den menschenfeindlichen Haßtiraden Luthers gegen die Juden Stellung nimmt, so sind wir auf alle Fälle wesentlich weiter in der „Aufarbeitung“!

An der längerfristigen Umwandlung unserer Gesellschaft als Mitglied der Linkspartei teilzunehmen, macht Spaß und hält mich fit.