RotFuchs 217 – Februar 2016

Prof. Dr. Herbert Meißner:
Meine russischen Jahre

Prof. Dr. Herbert Meißner

Cilly Kellers „Unvergeßliche Eindrücke“ aus ihrer Leningrader Studienzeit (RF 215) sind für die Beibehaltung unseres klassenmäßig geprägten Blickes auf die Sowjetunion wertvoll und verdienen Erweiterung. Dies besonders angesichts der in den groß- und kleinbürgerlichen Medien herrschenden Russophobie. Diese Russenfeindlichkeit macht leider auch vor manchen Linken nicht halt. Ich war fassungslos, als ich im ND vom 24./25. Oktober 2015 unter der Balkenüberschrift „Rußland hat eine neue Phase des Tötens eingeleitet“ folgendes las: „Mit den Luftangriffen Rußlands im syrischen Krieg wurde eine neue Phase des Mordens und Tötens eingeleitet.“ Stefan Liebich, Mitglied mehrerer Leitungsgremien der PDL, hält also die Bombardements der militärischen Anlagen des IS durch Franzosen, Briten und andere NATO-Piloten für eine Verteidigung der Menschenrechte, die von Damaskus erbetene Beteiligung russischer Streitkräfte hingegen für eine „neue Phase des Mordens und Tötens“. Er erklärt damit die russischen Piloten zu Mördern. Meines Wissens hat sich bisher kein leitender PDL-Funktionär von dieser Position distanziert.

Mein Verhältnis zu den russischen Menschen und ihrem Land lasse ich mir durch solche Bösartigkeiten nicht verderben.

Als ich im September 1952 mit vier Aspiranten und einer kleinen Studentengruppe zur weiteren Ausbildung an der dortigen Universität in Leningrad eintraf, waren die Kriegswunden der Stadt noch nicht verheilt. Zerstörte Wohnviertel hatten nicht so schnell wieder aufgebaut werden können, und die zerbombten Elektrizitäts- und Wasserwerke waren vorerst nicht völlig funktionstüchtig. Es gab keine Familie, die nicht durch Kriegshandlungen, Hunger und Kälte schmerzliche Verluste erlitten hatte.

In diese von der faschistischen Kriegsmaschine aufs schwerste heimgesuchte Stadt kamen wir als erste junge Deutsche. Und was geschah?

Trotz allgemeiner Wohnungsnot erhielten wir Zimmer in einem Studentenheim am Ufer der Newa mit Blick auf die Ermitage. Den Raum, wo vier Doppelstockbetten standen, bewohnte ich mit zwei tschechischen, zwei bulgarischen, zwei russischen und einem rumänischen Genossen. Umgangssprache war Russisch, das zunächst keiner der ausländischen Studenten beherrschte. Doch der Zwang zur Verständigung und ein ebenso intensiver wie hochqualifizierter Sprachunterricht trugen wesentlich dazu bei, den von Beginn an in Russisch durchgeführten Vorlesungen und Seminaren immer besser folgen zu können. Wir bemühten uns, dem durch Fleiß und Arbeitsintensität gerecht zu werden. Wenn man um zwei oder drei Uhr nachts in die Lesesäle und Bibliotheken schaute, waren sie vorwiegend von chinesischen und DDR-Studenten frequentiert.

Aber wichtiger war etwas anderes: Die leidgeprüften Leningrader, die uns Deutschen anfangs mit kritischer Aufmerksamkeit begegnet waren, entwickelten rasch eine großzügige Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft. Wenn wir im Lebensmittelladen hilflos in der Schlange standen, fand sich stets ein Erklärer: Du mußt erst an die Warentheke gehen und auswählen, dann zur Kasse und mit dem Kassenbon zur Verkäuferin. Und wenn wir im vollbesetzten Bus oder in der Straßenbahn mühsam versuchten, zur Lösung des Fahrscheins bis zum Fahrer vorzudringen, wurden wir freundlich belehrt, daß hier das Fahrgeld von Hand zu Hand nach vorn gereicht würde und der Fahrschein samt Wechselgeld auf gleichem Wege zurückkomme. Nicht eine einzige Kopeke ging dabei verloren.

Apropos Bahn und Bus: In keinem der Länder, die ich später kennenlernte, habe ich so viel junge und alte Leute mit einem Buch auf den Knien lesend gesehen. Der Hunger auf Bildung und Wissen aller Art war außergewöhnlich und ging quer durch die Bevölkerung.

Auch über die Universität hinaus knüpfte ich Bekanntschaften, die von gegenseitigem Vertrauen geprägt waren. Dadurch erhielt ich wiederholt Hinweise auf innenpolitische Probleme der Sowjetunion. Dies war sonst lange Zeit gegenüber Ausländern ein Tabu. Nach Stalins Tod 1953 lockerte sich das, und ich erfuhr auch manches, was mich erschütterte. Später setzte ich mich damit gründlich auseinander, so in meinen Büchern über Trotzki sowie zum Thema „Gewaltlosigkeit und Klassenkampf“. Dies erwähne ich hier nur, um nicht schönfärberischer Nostalgie bezichtigt zu werden.

Nach Promotion und im Sommer 1956 erfolgter Rückkehr in die DDR wurden mir Forschungsaufträge erteilt und leitende Aufgaben im Wissenschaftsbereich übertragen. In diesem Rahmen unterhielt ich weiterhin enge Kontakte zu entsprechenden Institutionen der Sowjetunion und vielen herausragenden Persönlichkeiten wie Prof. Eugen Varga. Nach der Veröffentlichung meiner Dissertation in Moskau brachten sowjetische Verlage einige meiner Bücher heraus. Andererseits konnte ich das 1959 in Moskau erschienene Werk des namhaften russischen Ökonomen I. E. Bljumin über Geschichte und Gegenwart der bürgerlichen Politischen Ökonomie übersetzen und 1962 beim Dietz-Verlag herausbringen.

Meine Studienaufenthalte und privaten Kontakte beschränkten sich indes keineswegs auf Leningrad und Moskau. Ich lernte auch Odessa und Taschkent sowie Samarkand und Buchara mit ihrer phantastischen osmanischen Architektur kennen. Nach Kursk wurde ich vom dortigen „Haus der Wissenschaften“ zu Vorträgen eingeladen. Im Kursker Kriegsmuseum erklärte man mir am Modell die Panzerschlacht am Kursker Bogen, welche nach Stalingrad die endgültige Wende im II. Weltkrieg herbeiführte. Mein Kontakt mit dieser Stadt besteht immer noch.

Als ich mit einer von Alma Ata (heute Astana) aufbrechenden kleinen Delegation tief in der kasachischen Steppe eine Woche bei Nomaden in deren Jurte lebte, fühlten wir uns alle wie Brüder. Dabei wurde mir die Ehre zuteil, das aus einem gekochten Ochsenkopf herausgelöste komplette Auge des Tieres auf einem Suppenlöffel in einem Schluck herunterzuschlürfen. Nur sofortiges Wodkatrinken vermochte das Ochsenauge daran zu hindern, den Rückweg aus meinem Magen anzutreten. Danach haben wir dann gemeinsam russische und deutsche Volkslieder gesungen.

All das bestimmt unzerstörbar mein Verhältnis zu den Russen und ihren befreundeten mittelasiatischen Nachbarn. Daran können auch großmäulige Wichtigtuer, denen der Antikommunismus wie ein Zipfel aus der Rocktasche hängt, nichts ändern.

Es handelt sich um jene Russen, in deren Namen Jewgenij Jewtuschenko die Frage stellt: „Meinst du, die Russen wollen Krieg?“ Heute sind sie es, die zusammen mit der Volksrepublik China und anderen Kräften unsere große Hoffnung auf den Erhalt des Weltfriedens verkörpern.

Unser Autor war Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR.