RotFuchs 191 – Dezember 2013

Die Geschichte der Volkspolizei
aus der Sicht eines Übergelaufenen

Schulzes neue Brille

Werner Feigel

Als der Berliner Verlag ein Buch zur Geschichte der Deutschen Volkspolizei anbot, war ich gespannt, habe ich sie doch in 40 Dienstjahren mit geschrieben.

Der erste Blick in das 256 Seiten umfassende Material läßt auf mit Abbildungen und Fotos untersetzte gründliche Arbeit schließen.

Im Vorwort zweier Professoren wird dem Autor, Kriminalhauptkommissar Dieter Schulze, Dozent für Kriminalwissenschaften an der Fachhochschule für Polizei Sachsen, Lob gespendet. Ihm sei es gelungen, die Grundlage für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Stärken und Schwächen der Deutschen Volkspolizei geschaffen und neue Erkenntnisse zur Bewältigung künftiger Aufgaben gewonnen zu haben.

Im Text läßt Dieter Schulze erkennen, daß ihm seine 20jährige Tätigkeit in den Reihen der Volkspolizei bewahrenswertes Wissen vermittelt hat. So steht beispielsweise in seiner Arbeit der Satz Lenins: „In allen bürgerlichen Republiken, selbst in den allerdemokratischsten, ist die Polizei das Hauptwerkzeug zur Unterdrückung der Massen.“

Schulze informiert seine Leser auch kurz darüber, daß die Polizisten in der sowjetischen Besatzungszone meist aus einfachen Verhältnissen, also aus der Mitte des Volkes, kamen. Vermutlich will er damit die Bezeichnung Volkspolizei erklären, da der Unterschied zwischen Polizei und Volkspolizei sonst an keiner Stelle mehr Erwähnung findet. Wenn er allerdings schreibt, in allen Besatzungszonen sei nach 1945 eine neue Polizei entstanden, in die man belastete Polizeibeamte, ehemalige Offiziere und Berufssoldaten der Wehrmacht grundsätzlich nicht aufgenommen habe, dann widerspricht das der Realität. Es vertuscht die Tatsache, daß die neue Polizei in Ost- und Westdeutschland völlig konträre soziale und politische Konturen besaß. Sollte Schulze etwa entgangen sein, daß Adenauer seinen Staatsapparat – ob Verwaltung, Justiz, Geheimdienst, Auswärtiges Amt oder Polizei – ganz überwiegend aus Altgedienten des untergegangenen Nazi-Reiches aufbaute?

Als ich am 15. Oktober 1945 in Plauen zu den Polizisten stieß, erlebte ich das in der Praxis selbst. Die U.S. Army hatte in ihrer kurzen Besatzungszeit dort auf derart „bewährte“ Kräfte zurückgegriffen.

Eingestellt wurde ich von einem Polizeioberinspektor, der schon unter allen Regierungen gedient hatte und zwar „für unbestimmte Zeit nach Maßgabe der Allgemeinen Tarifordnung für Gefolgschaftsmitglieder (!) im öffentlichen Dienst“.

Zum Chef der Plauener Kriminalpolizei hatten die Amerikaner einen im Osteinsatz bewährten Kriminalrat gemacht. Der konnte seine Erfahrungen allerdings nicht mehr lange weitervermitteln, da sich mit dem Einrücken der Roten Armee die Verhältnisse grundlegend ändern sollten. Mein Kommissariatsleiter war ein Berufssoldat, der es in der Wehrmacht bis zum Stabsfeldwebel gebracht hatte.

Ganz im Gegensatz dazu wurden in der sowjetisch besetzten Zone und dann auch in der DDR nur bewährte Antifaschisten oder junge, aufgeschlossene Menschen eingestellt, die weder politisch noch militärisch schuldbeladen waren.

Diese Tatsache, aber auch die allseitige Erziehung in einem neuen Geist führten dazu, daß im Osten anstelle der bürgerlichen Polizei erstmals in der deutschen Geschichte eine wirkliche Polizei des Volkes entstehen konnte.

Der Autor, der das natürlich alles weiß, zitiert die 1955 formulierte Aufgabenstellung der Polizeiführung: „Die Deutsche Volkspolizei ist die erste wahrhaft demokratische Polizei in der Geschichte Deutschlands. Geführt von bewährten und erprobten Genossen der deutschen Arbeiterbewegung setzt sie sich in der überwiegenden Mehrzahl aus Arbeitern und Bauern zusammen, aus Söhnen und Töchtern des werktätigen Volkes in Stadt und Land.“

Dennoch ignoriert Schulze aus leicht erklärlichen Gründen diesen gravierenden Unterschied. Andere Aussagen wären für ihn wohl kaum karriereförderlich gewesen. Seine Anpassung an den „Zeitgeist“ – also die Ideologie der Herrschenden – beweist auch Schulzes Sicht auf den Kalten Krieg. Er stellt die Wahrheit auf den Kopf, wenn er schreibt: „Zur Logik des Kalten Krieges und ihrer propagandistischen Interpretation gehört es, daß die jeweils andere Seite für die eigenen Schritte und Maßnahmen verantwortlich gemacht wird. Es handelt sich um einen dynamischen Prozeß, an dem beide Seiten gleichermaßen schuldig wie schuldlos sind.“ Dabei weiß der Verfasser dieser Zeilen ganz genau, wer Angreifer und wer Verteidiger war. Den Wirtschaftskrieg entfesselte die BRD, nicht aber die DDR. Sabotageakte und Brandstiftungen wurden vom Westen geplant und durchgeführt. Die Versorgung der DDR-Bevölkerung wurde durch Falschmeldungen, Fehlleitungen und politischen Druck auf die Handelspartner der DDR immer wieder gestört. Ballons mit Millionen Hetztraktaten schickte der Westen in die DDR. Wie kann da von gleicher Schuld und Unschuld die Rede sein?!

So ist unverkennbar, daß Schulzes Buch einer objektiven Betrachtung der Geschichte der Deutschen Volkspolizei in keiner Weise gerecht wird. Es vermittelt zwar Faktenwissen im Detail, deckt aber die gesellschaftlichen Positionen der jeweils handelnden Kräfte nicht auf, auch wenn sich der Autor der standardisierten Hetze zum 17. Juni 1953 und zum Mauerbau verweigert. Schulze wäre gut beraten gewesen, wenn er auch Arbeiten gestandener DDR-Insider genutzt hätte, die in seinem Quellenverzeichnis auffälligerweise völlig fehlen. Kompetente Autoren wie der letzte Innenminister vor dem Anschluß der DDR, Peter-Michael Diestel, VP-Generalleutnant a. D. Karl-Heinz Schmalfuß und der Strafrechtler Prof. Erich Buchholz, der die Kriminalitätsentwicklung in beiden deutschen Staaten tiefgründig analysierte, hätten da zu Rate gezogen werden können.

Einige offensichtliche „Irrtümer“ in Schulzes Buch sollen hier noch kurz erwähnt werden. Welche Tendenz liegt z. B. seiner Behauptung zugrunde, zwölf Millionen deutsche Kriegsgefangene hätten zehn Jahre in der UdSSR Zwangsarbeit verrichten müssen?

Schulze verkündet, in der DDR seien Wirtschaftsdelikte ausschließlich vom MfS untersucht worden, obwohl er genau weiß, daß sie die Kripo bearbeitete und nur in besonderen Fällen an die Staatssicherheit übergab.