RotFuchs 199 – August 2014

Was an der Lohn- und Preispolitik der DDR nicht stimmte

Schwarzbrote für Rindermägen

Dr. Dieter Krause

Die DDR stand immer in einem erbitterten Abwehrkampf gegen Versuche kapitalistischer Klassengegner im Westen, ihren systematischen Aufbau zu verhindern. Im Laufe der Jahre wurde dieser immer komplizierter, zumal nicht alles auf Anhieb gelang oder problemlos verlief. Nicht zuletzt auch eigene Fehler führten zu den von Westberlin aus gesteuerten Ereignissen des 17. Juni 1953. Die Tatsache, daß Arbeiter bereit waren, gegen Entscheidungen ihrer Führung, die ja fast ausschließlich selbst aus der Arbeiterklasse stammte, zu protestieren, löste damals bei etlichen unserer Funktionäre einen Schock aus. So sensibilisierte sie nicht grundlos das Wort „Streik“ – konnte man doch nicht gegen sich selbst streiken.

Auf einer Kreisbauernkonferenz in Binz auf Rügen – ich war damals ein junger Agronom – wurde ich aus dem Saal gerufen. Hinter der Bühne stand Genosse Georg Ewald, der später dem Politbüro der Partei angehörte, und sagte mit bebender Stimme, in meiner LPG werde gestreikt. Ich solle sofort nach Hause fahren, die Lage sondieren und ihm unverzüglich Bericht erstatten. An Ort und Stelle ergab sich dann, daß ein betrunkener Melker die Staatssicherheit angerufen und mitgeteilt hatte, er werde am Nachmittag in den Streik treten, weil sein Kachelofen noch immer nicht repariert worden sei.

Besonders negative Auswirkungen auf die Bewußtseinsentwicklung der Bevölkerung hatte die hochgradige Subventionierung der Lebenshaltungskosten, was zu einem sorglosen Umgang mit vielen Dingen des täglichen Bedarfs führte. Durch eine umfassende Analyse der Industrie- und der Landwirtschaftspreise als Grundlage für notwendige Veränderungen war der reale, gesellschaftlich notwendige Aufwand für Produkte und Dienstleistungen festgestellt worden. Dadurch konnten erstmals die wirklichen Lebenshaltungskosten und die Kosten für eine Arbeitsstunde annähernd ermittelt werden. Der nächste und äußerst notwendige Schritt wäre die daraus resultierende Bewertung der menschlichen Arbeit und eine entsprechende Veränderung der Löhne und Gehälter gewesen. Durch die Angleichung der Verbraucherpreise hätte das grundsätzlich keine Auswirkungen auf den Lebensstandard der DDR-Bürger gehabt. Die staatlichen Subventionen für Verbraucherpreise aller Bereiche waren ja immer aufgewendet worden und mußten nur entsprechend umverteilt werden.

Die Einführung kostendeckender Verbraucherpreise hätte den Menschen das wahre Ausmaß der Vergeudung vor Augen geführt und sie auf einen sparsameren Verbrauch lebensnotwendiger Produkte und Dienstleistungen sowie eine entsprechende Nutzung ihres Wohnraums hingelenkt. Immerhin läßt sich ein Fünf-Pfennig-Brötchen leichter wegwerfen als eines für 40 Pfennig.

Für fast alle Lebensbereiche wurden durch staatliche Subventionen die tatsächlichen Kosten verharmlosend kaschiert und damit eine gleichgültige Einstellung zum Verbrauch begünstigt. Hinzu kamen auf dem Gebiet der Nahrungsgüterwirtschaft enorme Verluste durch Verfüttern von Lebensmitteln, in denen ein großer sachlicher Aufwand und kostbare Arbeitszeit steckten. So wurden in ländlichen Gebieten etwa 70 % des einfachen Schwarzbrotes, das 51 Pfennig kostete, an Rinder verfüttert. Ähnlich verhielt es sich bei Haferflocken und anderen Nahrungsmitteln, die sich für die Aufzucht von Junggeflügel eigneten.

Das Problem bewegte durchaus nicht wenige Menschen. So erzählte ein Abteilungsleiter des Rostocker Konsum-Backwarenbetriebes in der Sauna von seinen Bemühungen, die Schwarzbrot-Verschwendung wenigstens den Sommer über zu unterbrechen. In jenem Jahr war es besonders heiß, so daß die Zahl der Ostseeurlauber unerwartet stark anstieg, was zur Verknappung bei Brot führte. Weil besagtes 51-Pfennig-Schwarzbrot von Menschen kaum noch gegessen wurde, hatte sich unser Abteilungsleiter gefreut, die Produktion des „Mastbullenfutters“ zugunsten anderer Brotsorten vorübergehend einstellen zu können. Das Ergebnis seiner Bemühungen war dann aber, daß man ihn zwang, aus Verwaltungskräften seines Betriebes eine vierte Schicht zu bilden, um das Futterbrot wieder „sortimentsgerecht“ produzieren zu können.

Dieser Zustand war der Partei- und Staatsführung bekannt und wurde dort heftig diskutiert. Im Mittelpunkt stand dabei die Notwendigkeit einer Korrektur der Verbraucherpreise wie der Löhne.

Doch nichts geschah. Statt dessen hatten bekannte Ökonomen die Beibehaltung der subventionierten Verbraucherpreise zu verteidigen, obgleich einige von ihnen selbst andeuteten, andere Lösungswege zu kennen. Auf einer Berliner Konferenz setzte Günter Schabowski den Schlußstrich unter diese Debatte, indem er den Redebeitrag einer Ingenieurin besonders lobte, welche die niedrigen Verbraucherpreise nachdrücklich verteidigt hatte. Warum wurde die gesellschaftlich notwendige Preiskorrektur nicht konsequent durchgesetzt? Es gab Befürchtungen der Führung, daß dabei Probleme auftreten würden, die zeitweilig zu scharfen Spannungen führen könnten. Diese Sorge war durchaus berechtigt, wie die Durchführung der Agrarpreisreform zeigte. Für Ökonomen der Landwirtschaft war es relativ einfach, den sachlichen Aufwand z. B. bei der Milchproduktion zu ermitteln. Weitaus schwerer wurde es aber für sie einzuschätzen, welche Auswirkungen die menschliche Initiative auf die Senkung der Herstellungskosten haben würde. Die Möglichkeit, Milch nach Jahrzehnten endlich wieder mit Gewinn produzieren zu können, wirkte auf Mitglieder und Beschäftigte in den LPG und VEG geradezu elektrisierend.

So war eine nachträgliche Herabsetzung des Erzeugerpreises schwierig und unpopulär. Eher wäre dessen bewußt niedrigere Ansetzung möglich gewesen. Bei Bedarf hätte man den Preis dann ja ohne Schwierigkeiten erhöhen können. Von der DDR-Bevölkerung waren bisher keinerlei negative Erfahrungen mit Preisveränderungen gemacht worden – sei es bei der Zusammenführung der niedrigeren Lebensmittelmarken- und der höheren HO-Preise, sei es bei Preisveränderungen im Konsumgüterbereich.

Die möglichen Rationalisierungseffekte, welche die Betriebe entdeckten, um den Produktionsaufwand zu senken, waren weitaus größer als angenommen, und der Gewinn aus der Milchproduktion, um beim Beispiel zu bleiben, stieg sogar über das vorgesehene und gesellschaftlich vertretbare Maß hinaus. Für meine LPG, die erhebliche Mengen erzeugte, war das natürlich ein Glücksfall, weil wir dadurch die aufgenommenen Kredite sehr viel schneller abzahlen konnten.

Bei der Korrektur der Verbraucherpreise wäre der gleiche Effekt eingetreten. Angesichts des enormen Umfangs und ihrer Komplexität hätte man die mögliche Einsparung aber sehr viel schwerer bestimmen können. Eine nachträgliche Korrektur der Preise nach oben wäre politisch nicht denkbar gewesen, zumal die westlichen Medien daraus einen Propagandaschlager ersten Ranges gemacht hätten. Also unterblieben gesellschaftlich notwendige Maßnahmen, die für die Volkswirtschaft außerordentliche Bedeutung gehabt hätten. Das unreal niedrige Lohnvolumen und die „zweite Lohntüte“ in Gestalt stark subventionierter Preise für Produkte, Dienstleistungen und Wohnraum blieben unverändert.

Unser Autor war LPG-Vorsitzender und Leiter des Wissenschaftlich-Technischen Zentrums für Landwirtschaft beim Rat des Bezirkes Rostock.