RotFuchs 217 – Februar 2016

Zur gezielten Kriminalisierung
sogenannter Wirtschaftsflüchtlinge

Selektion wie in alten Tagen

Ulrich Guhl

Der Begriff des „Wirtschaftsflüchtlings“, der nach Deutschland kommt, um auf „unsere Kosten“ leben zu wollen, bezeichnet eine künstlich geschaffene Haßfigur in den populistischen Flüchtlingsdebatten der systemtragenden Parteien, in den Sammlungsbewegungen „besorgter Bürger“ bis hin zum notorischen Stammtisch. Seine Heimat aus wirtschaftlichen Gründen zu verlassen, scheint eine Todsünde zu sein. Kaum jemand unter den „Besorgten“, die den dumpfen Parolen von PEGIDA, AfD, NPD und solcher Musterdemokraten wie Thomas de Maizière auf den Leim gehen, scheint sich zu fragen, warum Menschen eigentlich ihre Heimat verlassen, Tausende Kilometer unter großen Gefahren und Entbehrungen zurücklegen, um in einem anderen Land mit einer ihnen völlig fremden Kultur einen neuen Anfang zu wagen.

Karikatur: Harm Bengen

51 Millionen Menschen sind derzeit weltweit auf der Flucht. Ihre Motive haben ganz überwiegend mit der durch die „westliche Wertegemeinschaft“ diktierten ungerechten Verteilung und der Art der Erlangung des Reichtums auf unserem Planeten zu tun. Zweifellos sind Kriege ein Hauptgrund für das Entstehen der Flüchtlingsströme, wobei deren Verursacher möglichst anonym bleiben möchten. Den davon Betroffenen wird gerade noch ein legitimer Fluchtgrund zugestanden. Doch Flucht, um einem Leben in Armut zu entgehen, wird als selbstsüchtige Tat mutwilliger Räuber fremder Kassen geschmäht. Man tut so, als kämen die Betroffenen wie Diebe in der Nacht, die es sich auf unserem Sofa bequem machen wollen.

Nein, der größte Teil von ihnen flieht, weil er wirklich arm und durch ein verbrecherisches Wirtschaftssystem zum Vegetieren in bitterer Not gezwungen ist.

Ich will in diesem Beitrag die Fluchtursache Krieg bewußt einmal ausklammern. Über sie ist im RF bereits Wichtiges ausgesagt worden. Mir geht es darum, die Umstände anzudeuten, welche Menschen dazu zwingen, aus wirtschaftlichen Motiven ihre Heimat zu verlassen. Unter dem Deckmantel angeblicher Förderung des internationalen Handels wurden in den letzten Jahrzehnten etliche arme Länder von der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds zu „Strukturanpassungsprogrammen“ als Bedingung für Kreditgewährung gezwungen. Diese hatten eine „neoliberale“ Angleichung ihrer Wirtschaft mit den bekannten Folgen zum Ergebnis. Die Arbeitslosigkeit stieg, die Löhne sanken, und das ohnehin grassierende Elend nahm durch immer mehr Verschuldung zu. Vorteile brachten solche Maßnahmen allein den reichen westlichen Industriestaaten durch fallende Zollschranken, extrabillige Arbeitskräfte und sinkende Rohstoffpreise.

Mit Hilfe eines „Ökonomischen Partnerschaftsabkommens“ drängt Brüssel arme Länder wie Kenia zum Kauf subventionierter Lebensmittel aus der EU und zerstört damit deren einheimische Märkte. Sogenannte Rohstoffinitiativen solcher „Partner“ wiederum dienen allein der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen betroffener Länder ohne Rücksicht auf deren eigene Interessen.

Die Verschuldung der Staaten der dritten Welt basiert in erster Linie auf der Kreditpolitik des Westens. Diese zwingt den davon Heimgesuchten Kredite auf, die Vorbedingung der oben genannten „Strukturanpassungsmaßnahmen“ sind. Zur Kreditaufnahme waren die „Bittsteller“ vor allem wegen der seit Beginn der 70er Jahre fallenden Rohstoffpreise gezwungen. Da sie meist nichts anderes als diese Ressourcen besitzen, nahm die Verarmung vieler Entwicklungsländer mit dem Preisverfall ständig zu.

Die Schulden der dritten Welt sind im Vergleich mit dem Reichtum der Industriemagnaten des Westens geradezu lächerlich. In den armen Ländern aber verhindert der Zinsendienst jede Zukunftsinvestition in Bildung, Gesundheit, Ernährung und Wirtschaftsentwicklung. Alle Entschuldungsinitiativen werden von den Gläubigerstaaten gezielt unterlaufen. Durch Lebensmittelspekulation an Warenterminbörsen treibt man zugleich die Preise für Grundnahrungsmittel in den armen Ländern künstlich in die Höhe. Der Hunger wird also bewußt von spekulierenden Großbanken und Konzernen forciert, um mit den Preisschwankungen spekulieren zu können. Dazu hält man Nahrungsmittel künstlich zurück, um an dem durch die daraufhin steigende Nachfrage vorweggenommenen Preisanstieg partizipieren zu können. Das trifft natürlich die Ärmsten der Armen besonders hart. In Ghana müssen z. B. die Arbeitenden über 70 % ihres Einkommens für Grundnahrungsmittel aufwenden!

Durch Landnahme werden Tausende Kleinbauern von Großanlegern ihrer Böden beraubt, die auf diesen Rohstoffe für den Markt der Industrieländer anbauen. Hier spielt sich oftmals noch ein weiteres Drama ab. Unter dem Vorwand des Umweltschutzes werden auf riesigen Flächen Hunderte Millionen Tonnen Getreide nur dafür erzeugt, um in Form von Agrartreibstoff verpulvert zu werden. Allein die USA verbrannten 2011 über 138 Millionen Tonnen Mais. Wie viele Menschen hätten davon ernährt werden können?!

Alle fünf Sekunden verhungert auf der Welt ein Kind unter zehn Jahren. Eine Milliarde Erdbewohner ist permanent auf das schwerste unterernährt. Obwohl unser Planet problemlos 12 Milliarden Menschen ernähren könnte, sterben täglich Unzählige, um das von Pegida und anderen Heilsbringern verklärte Abendland erstrahlen zu lassen! Es handelt sich um einen Krieg, der ohne Bomben ausgefochten wird! Die nicht von den armen Ländern verursachte Erderwärmung wird überdies in Zukunft Klimakatastrophen auslösen, die zu einer weiteren Verknappung von Trinkwasser führen. Schon jetzt ist es in der dritten Welt vielerorts äußerst knapp oder gar nicht mehr vorhanden. Was würden wir in einer solchen Situation tun? Würden wir lieber verdursten? Oder würden wir uns auf den Weg machen, um solchem Elend zu entrinnen?

Jeder Mensch hat das Recht, sich auf die Suche nach einem besseren Leben zu begeben. Das hat man offenbar in jenen Kreisen, welche sonst die Menschenrechte Tag für Tag in den Mund nehmen, absolut vergessen. Die Wirtschaftsflüchtlinge kommen zu uns, um ihren Anteil an dem ihnen zuvor geraubten Recht auf Nahrung, Gesundheit und schlichtes Lebensglück einzufordern! Und sie konfrontieren die Räuber mit deren Taten.

Diese wiederum brauchen AfD, Pegida & Co. sowie deren dumpfe Parolen, um große Bevölkerungsteile von der Unmoral ihres eigenen Tuns abzulenken.

Wir müssen den Ausbrüchen der Ausländerhasser wie deren Parolen mit der Feststellung entgegentreten: Armut ist kein Verbrechen! Vor Armut zu fliehen, auch nicht! Doch Armut gezielt zu erzeugen, um grenzenlosen Reichtum auf Kosten anderer zu ergattern, ist in höchstem Grade kriminell!