RotFuchs 229 – Februar 2017

Sind beide Seiten gleichermaßen
schuld am Krieg?

Joachim Guilliard

Manche in der Friedensbewegung Aktiven neigen dazu, neben richtigen Forderungen wie der nach schnellstmöglicher Wiederaufnahme von Friedensgesprächen alle Seiten gleichermaßen für den Krieg verantwortlich zu machen. Mit einer solchen Position der Äquidistanz setzt sich der Heidelberger Physiker Joachim Guilliard in einem Brief an den Vorbereitungskreis der Berliner Demonstration vom Oktober vergangenen Jahres auseinander. Er schreibt:

Was versprecht Ihr Euch von einer Erklärung, die völlig neutral zu bleiben sucht, die vermeidet, Stellung zu beziehen und Verantwortliche zu benennen?

Statements wie „Krieg löst keine Probleme“ und Forderungen wie „Wir rufen alle Konfliktparteien auf: Laßt die Waffen ruhen!“ sind nett und nie falsch, aber doch völlig zahnlos: Da jede Konfliktpartei nun mal die andere verantwortlich macht, bleiben sie politisch praktisch ohne Wirkung. Wo mächtige Interessen im Spiel sind, kann nur öffentlicher Druck etwas bewirken, und diesen können wir nur über Entlarvung der tatsächlichen Politik, Motive und Verantwortlichkeiten erreichen. Dies wiederum am ehesten bei der eigenen Regierung und denen der Verbündeten.

Selbst wenn tatsächlich die Verantwortung gleich verteilt wäre, müßte sich unsere Kritik vor allem auf die Politik Deutschlands und des Westens konzentrieren. Sonst bleiben solche Erklärungen m. E. nur Selbstdarstellungen im Sinn von „Wir sind die Guten, die Friedfertigen“ – wobei man aber von Politikern und Medien letztlich nur als „die Harmlosen“ wahrgenommen wird. Es sind jedoch, wie auch Ihr eigentlich wissen dürftet, keineswegs beide Seiten gleichermaßen schuld am Krieg. Dafür, daß die Protestbewegung in einen bewaffneten Aufstand umschlug, der schließlich zu einem internationalisierten Krieg wurde, sind in erster Linie die NATO-Staaten und die Golfmonarchen verantwortlich, die die Milizen ausrüsteten, bewaffnen und finanzieren und auch durch politische Aktivitäten, Wirtschaftssanktionen u. v. m. auf einen „Regime Change“ hinarbeiteten. Man braucht hier nicht mehr zu spekulieren, alles – von den wahren Motiven der westlichen Syrien-Politik bis zu der Organisation der Lieferung von Waffen ‒ kann man heute in Dokumenten und gut recherchierten Reports nachlesen.

Selbstverständlich verfolgt auch Rußland eigene Interessen – u. a. kein zweites Libyen in dieser bedeutenden Region, keine weitere Demontage der internationalen Ordnung und kein sicheres Hinterland für terroristische, islamistische Banden so nahe an seinen Grenzen zuzulassen. Die russische Regierung hat sie aber vor allem verfolgt, indem sie sich intensiv um eine politische Lösung bemühte. Wer die Liste gescheiterter Friedensinitiativen durchgeht, wird leicht erkennen, daß sie stets an der harten Haltung der Nato-Staaten und ihrer lokalen Verbündeten scheiterten, die stur an ihrem „Regime Change“-Ziel festhielten – ohne Rücksicht auf die Folgen. Militärisch intervenierte Rußland erst, als alle Versuche gescheitert waren und bald auch Gebiete in den von der Regierung gehaltenen bevölkerungsreichsten Regionen im Westen  in die Gewalt der dschihadistischen Gruppen zu fallen drohten, die die von der NATO und ihren Bündnispartnern initiierten und ausgerüsteten „Rebellenfronten“ dominieren. Indem Ihr in Eurer Erklärung so neutral bleibt, entlastet ihr unweigerlich die Hauptverantwortlichen. Denn „wer einen Streit anfängt, hat schon halb gewonnen, wenn die Mehrheit zur Halbzeit glaubt, beide Streithähne seien in gleicher Weise schuld“, so vor kurzem treffend die „NachDenkSeiten“. Krieg schafft in der Tat auch in Syrien keinen Frieden. Zuzulassen aber, daß die diversen Terrorbanden wie Al Nusra, Ahrar al Sham, Jaish al-Fath etc. immer wieder frisch versorgt mit Kämpfern und Waffen sich weiter ausbreiten, ist auch keine Lösung. Die meisten Syrer erwarten durchaus, daß ihre Armee sie vor diesen dschihadistischen Gruppierungen, die ihnen mit brutalen Methoden eine mittelalterliche Ordnung aufzwingen wollen, schützt.

Wenn wir etwas für den Frieden in Syrien tun wollen, müssen wir öffentlichen Druck auf Washington, Paris, London, Berlin aufbauen, indem wir ihre Umsturzpläne und ihre Unterstützung der islamistischen Milizen als hauptverantwortlich für die Fortsetzung des Krieges anprangern. Wir sollten uns hüten, unspezifizierte „humanitäre Korridore“ zu fordern, die u. a. auch von seiten der Türkei, USA, Großbritannien und Frankreich immer wieder als Gegenstück zur Flugverbotszone anvisiert werden, sondern ein mit der syrischen und russischen Seite abgestimmtes Vorgehen (meist würde es reichen, wenn man die Vorschläge von syrischer und russischer Seite ernst nehmen und unterstützen würde).

Wenn wir der Bevölkerung helfen wollen, müssen wir vor allem auch auf ein Ende der Sanktionen gegen Syrien drängen.

Aus „T & P” 11/2016