RotFuchs 210 – Juli 2015

Ein Desaster, das auf seine Urheber zurückschlagen könnte

Sind die Würger der Griechen
zu weit gegangen?

Ulrich Guhl

Seit Monaten geistert durch die bürgerliche Medienlandschaft der BRD wieder einmal das Bild von den „faulen Griechen“, die dem Fleißigsten aller Fleißigen, nämlich dem braven deutschen Steuerzahler, das Geld aus der Tasche ziehen wollen. „Wir“ sind wieder einmal die Zahlmeister für all diese „unfähigen Völker um uns herum“, wird Michel suggeriert. Gern erinnert man dabei an einen Gründungsmythos der BRD: Durch Ludwig Erhards „Wirtschaftswunder“ sei nach dem Krieg im Westen fast über Nacht der Wohlstand ausgebrochen. Die Grundlage dafür war – dieser Saga zufolge – jener sprichwörtliche „deutsche Fleiß“, den die Griechen und andere Völker „nun einmal so nicht an den Tag legen“. Diese in der alten BRD sorgsam gepflegte Herrenmenschenideologie erlebt jetzt eine neue Hochkonjunktur.

Doch Mythen sind eben Mythen. Heute, da nach dem Wegfall der DDR von deutschem Boden nicht nur wieder Krieg ausgeht, sondern auch eine seit 1945 in dieser Dimension nicht dagewesene Hetze gegen andere Völker und Kulturen betrieben wird, ist es an der Zeit, „Michel“ einige unangenehme Tatsachen der eigenen Geschichte ins Gedächtnis zu rufen.

Wenn es um Hellas geht, geistert immer wieder das Wort „Schuldenschnitt“ durch die Medien. Gemeint sind ein vollständiger oder zumindest teilweiser Erlaß der Verbindlichkeiten des hoch verschuldeten griechischen Staates oder wenigstens die Einräumung längerer Laufzeiten der Rückzahlungstranchen. Derzeit belaufen sich Griechenlands Schulden auf 245 Mrd. Euro, was 177 % seines Bruttoinlandsprodukts entspricht. Seit 2009 hat das Land 240 Mrd. Euro angebliche Hilfsgelder erhalten. Unerwähnt bleibt dabei, daß diese Summen fast ausschließlich den Banken zugute kamen, welche selbst die Schuldenkrise verursacht haben. Das an ihr schuldlose griechische Volk bekam davon nichts ab.

Die von der BRD dominierte „Troika“ aus Europäischer Kommission, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Zentralbank besteht auf einer pünktlichen Rückzahlung der enormen Schuldenraten, obwohl jeder vernünftige Mensch weiß, daß Griechenland völlig außerstande ist, den riesigen Schuldenberg abzutragen. Merkel und ihr besonders gnadenloser Finanzminister Schäuble sind dabei die Einpeitscher, obwohl gerade die BRD durch ihre extrem aggressive Export- und Niedriglohnpolitik einen wesentlichen Anteil an der hellenischen Wirtschaftskatastrophe hat. Dabei sollten schon aus historischen Gründen die Akteure in Berlin lieber leisere Töne anschlagen.

1953 wurde der noch jungen BRD akkurat das zugestanden, was sie heute Griechenland verweigert: ein Schuldenschnitt! Im Londoner Abkommen erließ man dem selbsterklärten Rechtsnachfolger des faschistischen 3. Reiches die Hälfte aller Auslandsschulden, während man die Rückzahlung des Restes auf die lange Bank schob.

Wenn die BRD-Regierung heute eine pünktliche Begleichung der griechischen Verbindlichkeiten einfordert, sollte man sie daran erinnern, daß Berlin erst 2010 (!) stillschweigend und von unseren „Qualitätsmedien“ nicht einmal erwähnt, seine letzte Schuldenrate aus dem Londoner Abkommen überwiesen hat.

Auf die Abforderung von Reparationen wurde 1953 weitestgehend verzichtet. Deren Wegfall und der Marshallplan ermöglichten Erhards „Wirtschaftswunder“. Zu den 22 Staaten, die an der Themse de facto gezwungen wurden, gegenüber der BRD auf die Rückzahlung deutscher Schulden zu verzichten, gehörte übrigens auch Griechenland. Das hat man in Athen nicht vergessen. Die deutschen Schulden gegenüber Hellas stammen aus der Zeit der faschistischen Okkupation!

Unerwähnt bleibt übrigens auch die Tatsache, daß sich Deutschland im vergangenen Jahrhundert mindestens dreimal selbst einer Staatspleite gegenübersah. Vergleichsweise damit stehen die Griechen noch gut da! Das Geld für die Reparationen nach 1918 lieh man sich zu Zeiten die Weimarer Republik von den USA und zahlte es – bedingt durch die Weltwirtschaftskrise von 1931 – nie zurück. 1945 besaß die Reichsmark nur noch Schrottwert. 1990 kam es erneut zu einem „Zahlungsausfall“, als sich Helmut Kohl weigerte, die aus dem Londoner Abkommen resultierenden restlichen Reparationsforderungen zu bedienen. Diese waren im Falle einer Vereinigung beider deutscher Staaten neu zu regeln.

Das Londoner Schuldenabkommen von 1953 basierte nicht auf Gnade oder Großzügigkeit gegenüber den besiegten Deutschen, obwohl auch dieser Mythos gern gepflegt wird. Die BRD sollte als Frontstaat im Kalten Krieg gegen die sozialistischen Länder so schnell wie möglich fit gemacht werden. Eine erdrückende Schuldenpolitik, wie sie heute den Griechen aufgezwungen wird, hätte der Wiederbewaffnung und Restauration der braunen Restbestände im Adenauer-Staat nur im Wege gestanden.

Wenn viele Bundesbürger, an der Spitze die sogenannten Eliten, ihren Herrenmenschendünkel pflegen, sollten sie zumindest in Erwägung ziehen, was ihnen durch die jenen 22 Staaten abgetrotzten Zugeständnisse erspart geblieben ist. Vielleicht sind ja die Verhältnisse in Griechenland ein Stück weit der Spiegel dessen, was in Westdeutschland passiert wäre, wenn es weder Marshallplan noch Schuldenschnitt gegeben hätte.

Den durch die unerträglichen medialen Hofschranzen politisch verblendeten Stammtischdeutschen wird das alles wohl kaum berühren. Erst recht wird es die wahren Verursacher der hellenischen Situation und deren Willensvollstrecker im Regierungsviertel zu keiner humanen Regung veranlassen. Doch vielleicht sind die Regisseure des großen Schlachtfestes, dessen Opfer die Griechen werden sollen, diesmal in ihrer Arroganz und Gier zu weit gegangen. Das ganze Desaster könnte eine Lawine in Südeuropa auslösen.