RotFuchs 235 – August 2017

Sozialismus und Wertgesetz –
eine widersprüchliche Einheit

Prof. Dr. Achim Dippe

Im Mai-„RotFuchs“ unternimmt Hermann Jacobs den Versuch, der theoretischen und politischen Diskussion über das Wertgesetz im Sozialismus einen neuen Pfad zu weisen. Seine Notwendigkeit und seine Wirkungsmöglichkeiten im Sozialismus lehnt er allerdings ab. So ist Jacobs der Auffassung, daß das Wertgesetz mit Beginn des Sozialismus durch das Gesetz der proportionalen Entwicklung ersetzt, sogar aufge­sogen wird. Das Wertgesetz reflektiert das elementare ökonomische Interesse, nur das zu akzeptieren, was unter gesellschaftlichen Durchschnittsbedingungen produ­ziert wurde und nach dem Äquivalenzprinzip in der Zirkulation verkauft werden kann. Hermann Jacobs versteht das Wertgesetz nur einseitig, als Äquivalenzrealisierung im Austausch, womit aber nur ein Erfordernis dieses Gesetzes erfaßt ist. Proportionali­tät bringt, ökonomisch wie technisch betrachtet, Abhängigkeiten und Relationen in allen Bereichen der Volkswirtschaft zum Ausdruck. Sie existiert immer in dialekti­scher Einheit mit der Disproportionalität. Proportionalität und Disproportionalität wechseln sich ab, gehen durch mannigfache ökonomische, finanzielle, technolo­gische, organisatorische und subjektive Faktoren bedingt ständig ineinander über. Das Gesetz der proportionalen und disproportionalen Entwicklung kann als das allgemeinste ökonomische Gesetz arbeitsteiliger Produktion bezeichnet werden. Es begleitet alle anderen ökonomischen Gesetze der jeweiligen Produktionsweise. Das Wertgesetz ist ein ökonomisches Gesetz der Interessenrealisierung. Das Gesetz der proportionalen und disproportionalen Entwicklung orientiert auf qualitativ und quantitativ bestimmte Abhängigkeiten, Notwendigkeiten und Sachzwänge, ohne die keine einfache, geschweige denn eine erweiterte Reproduktion möglich wären. Es ist aber kein Ersatzgesetz für das Wertgesetz.

Obwohl nach Jacobs das Gesetz der proportionalen Entwicklung ein Heilsbringer für den Sozialismus ist, bleibt sein Inhalt weitgehend unklar. Es ist falsch, für die Entste­hung des Finanzkapitals ursächlich das Proportionalitätsgesetz zu benennen. Da liegen die Ursachen vielmehr im Mehrwertgesetz, in der Dynamik der Profitraten, in der zyklischen Entwicklung des Kapitalismus. Es ist auch nicht die Arbeit als Geburtsquelle für das Proportionalitätsgesetz, sondern die gesellschaftliche Arbeits­teilung, der arbeitsteilige Produktions- und Zirkulationsprozeß im besonderen. Jacobs ersetzt die von Marx skizzierten Prozesse Ware – Geld – Ware bzw. Geld – Ware – Geld plus als Wesenselemente jeder arbeitsteiligen Produktion durch eine proportionale Zuordnung bzw. Verteilung von Arbeit in der Gesellschaft. Das Krite­rium für eine solche Zuteilungspraxis wäre der Bedarf in Menge und Qualität, der eine wirtschaftspolitische Größe mit der größten Veränderlichkeit ist und täglich tausend­fach auftretenden Einflüssen unterliegt. In dieser Hinsicht wurde beim Aufbau des Sozialismus in der DDR auch bitteres Lehrgeld gezahlt.

Mit der von ihm hervorgehobenen Dominanz der Gebrauchswerte in der Produktion und in der Zirkulation, der Abkopplung der Gebrauchswerte vom Wert, meint er, mögliche Ungerechtigkeiten, Benachteiligungen und fehlende soziale Sicherheiten, die dem Wertgesetz anhaften, wirksamer überwinden zu können. Die einseitige, scheinrevolutionäre Fokussierung auf Gebrauchswerte mündet folgerichtig in dem Vorschlag, alles in der Volkswirtschaft mit Zuteilungen, Kontingenten und Genehmi­gungen zu regeln. Die Produzenten sind nach diesem Konstrukt nur noch ausfüh­rende Subjekte, die durch zentral regulierte Güter und Geldfonds versorgt und kontrolliert werden. Das Tor in die zentral verwaltete, ohne dynamische Impulse dahindümpelnde Mangelwirtschaft wäre geöffnet. Jacobs fällt mit seiner Auffassung noch hinter Konzepte der Äquivalenzökonomen zurück, die für computergestützte Aufwandsmessungen, mathematisch basierte Wertgrößenbestimmungen und Aus­tauschbeziehungen, also für eine Mathematisierung des Wertgesetzes, eintreten.

Die Wertgröße erfüllt auch im Sozialismus – wie in der kapitalistischen Gesellschaft – einige Grundfunktionen, die der Warenproduktion unabhängig von der Gesell­schaftsordnung eigen sind. Dazu gehören: Messen des Quantums und der Qualität der aufgewandten gesellschaftlichen Arbeit; Bemessung des Anteils der Einkommen der Produzenten und der Eigentümer, Besitzer (Verteilungsfunktion); sie ist eine Orientierungsgröße hinsichtlich des Erkennens von Vorteilen bzw. von Defiziten im Niveau der Arbeitsproduktivität; sie ist eine Lenkungsgröße für mögliche Investi­tionen und Rationalisierungsmaßnahmen in der Produktion. Es ist nicht übertrieben zu sagen, ohne Wert, Wertgröße, Tauschbeziehungen, Preise etc. wäre die bisher erreichte zivilisatorische Höhe der gesellschaftlichen Entwicklung nicht möglich gewesen.

Die Kategorien der Warenproduktion und das Wertgesetz selbst sind seit über 2000 Jahren existent. Sie sind, bezogen auf die Gesellschaftsordnung, neutrale Kategorien einer arbeitsteiligen Produktion, bei Vorhandensein mannigfacher Eigentumsformen. Entscheidend ist, in welcher Produktionsweise, unter welchen Klassenverhältnissen, auf der Grundlage welcher Interessengruppen und Interessenkonflikte und im Rah­men welcher Staats- und Rechtsordnung ihr Wirken genutzt wird. Es genügt nicht, die Ware-Wert-Kategorien nur mit einem bestimmten vorherrschenden Eigentumstyp in Verbindung zu bringen.

Natürlich enthalten die Ware-Wert-Kategorien auch im Sozialismus nicht solche Attri­bute wie soziale Gerechtigkeit, Existenzsicherheit, Solidarität und Humanisierung der Arbeitswelt. Sie legen von ihrem Inhalt her objektiv die Vor- und Nachteile arbeitstei­ligen Wirtschaftens offen, liefern die Grundlage für alternative Wirtschaftsentschei­dungen und treiben über den Lohn, das Gehalt, die Prämien, den Status etc. dazu an, mutiger, innovationsfreudiger und gewissenhafter zu handeln. Sie zielen auch nicht auf die Überwindung sozialer Widersprüche und die Verringerung der Abstände zwi­schen Arm und Reich in der Gesellschaft.

Die Ware-Wert-Kategorien widerspiegeln objektiv schon am Anfang des beginnenden sozialistischen Wegs noch alte kapitalistische, aber zugleich schon neue, sich entfal­tende Produktionsverhältnisse. Sie werden in Abhängigkeit von der Produktivitäts­steigerung und dem wachsenden ökonomischen und finanziellen Potential stärker von sozialen Komponenten begleitet, sind wirksamer und vorteilhafter für die Arbeiter in gesetzliche Rahmenbedingungen eingeordnet und werden damit auch schrittweise profitgebremst realisiert. Nach und nach werden die Ware-Wert-Kategorien auf eine gesellschaftlich gewollte und ökonomisch verkraftbare soziale Schiene geschoben, ohne ihre Grundfunktionen in einer warenproduzierenden Gesellschaft aufzuheben.

Es wäre eine Art moderner ökonomischer „Maschinenstürmerei“, würde man aus revolutionärer Überzeugung und aus Ablehnung der Gebrechen des Kapitals heraus die Warenproduktion und das Wertgesetz mit ihrem hervorgebrachten Geflecht rationeller ökonomischer und finanzieller Abhängigkeiten abschaffen. An ihre Stelle müßten ineffiziente Verwaltungsakte, papierne Festlegungen und subjektivistisch gefärbte Berechnungen treten, die dem beginnenden Sozialismus den sicheren Tod bringen würden.

Die Warenproduktion und das Wertgesetz sind auch in einer sozialistischen Gesell­schaft das ökonomische „Perpetuum mobile“, das dauerhaft kollektive und indivi­duelle Triebkräfte zur Entwicklung und Beschleunigung von Wissenschaft, Technik und Technologie auslöst, das zur Findung optimaler Wirtschaftsentscheidungen drängt, das zu größerer Tatkraft, zur Übernahme von Risiken, zur Leistungssteigerung am Arbeitsplatz und zur Qualifizierung anregt.

Sozialismus und Wertgesetz sind eine widersprüchliche Einheit, die aber von der ökonomischen Interessenlenkung und -realisierung objektiv erforderlich, in dieser Einheitlichkeit sogar alternativlos ist. Eine starke sozialistische Staatsmacht macht sie trotz ihrer großen inneren Dynamik beherrschbar.