RotFuchs 212 – September 2015

Versuch einer nüchternen Bewertung
der „Republikflucht“ in den Westen

Stand die DDR vor dem „Ausbluten“?

Dr. Bernhard Majorow

Bis zum 13. August 1961 hatten nach westlichen Angaben 2,6 Millionen Menschen die DDR verlassen. Von ihrer Gründung bis heute werden die „Fluchten“ in die BRD als angeblicher Beweis für die Erfolglosigkeit einer sozialistischen Alternative in der DDR präsentiert, um zugleich auch einen moralischen Anspruch auf die „Wiedervereinigung“ geltend zu machen. Mit diesem Argument hoffte man alle noch so treffsicheren Entgegnungen der DDR-Verteidiger entkräften zu können.

Allerdings ermöglichen seriöse Quellen und wissenschaftliches Herangehen an die Thematik einen anderen Blick, der zur prinzipiellen Infragestellung dieses Propaganda-Dauerbrenners führt.

Zunächst einmal sind Massenfluchten nach dem Sieg einer Revolution und in scharf zugespitzten Klassenkampfsituationen eine häufige, ja sogar normale Erscheinung. Zu Fluchtwellen kommt es in der Regel vor allem während der ersten Jahre des Bestehens einer neuen sozialen Ordnung. Erfahrungsgemäß ebben sie dann quantitativ wieder ab, können allerdings zeitweise erneut in erheblichem Maße anschwellen.

Nach der Oktoberrevolution flüchteten aus Rußland zwischen 1918 und 1924 allein mehr als 1,2 Millionen Menschen nach Polen. Mit der Vertreibung der faschistischen Okkupanten aus der UdSSR bildeten vor allem ukrainische und belorussische Nazikollaborateure eine weitere Fluchtwelle. Bis zur Liquidierung der UdSSR durch Jelzin und seinen Klüngel, denen Gorbatschow den Weg geöffnet hatte, verließen über drei Millionen Menschen das Land.

CDU-Plakat von 1947
CDU-Plakat von 1947

Nicht anders verhielt es sich in Polen. Nach Errichtung der Volksmacht emigrierten im Zeitraum von 1946 bis 1989 rund 3,6 Millionen Landesbürger, 71 % davon bis 1950, weitere 11 % bis 1960. Etwa eine Viertelmillion Polen setzte sich dann bis 1980 in jedem Jahrzehnt ab. Doch im Unterschied zur BRD wurde mit diesen Zahlen recht nüchtern umgegangen, zumal die meisten Abwanderer, besonders seit 1960, rein wirtschaftliche Motive hatten. Anders verhielt es sich mit den bis 1948 geflohenen etwa 100 000 polnischen Juden, die den Faschismus überlebt hatten. Für sie war die Auswanderung – vorrangig nach Israel – keine Option gegen Volkspolen, sondern in erster Linie eine Flucht vor dem rabiaten Antisemitismus bewaffneter Konterrevolutionäre, die noch jahrelang auf polnischem Territorium ihr Unwesen trieben und heute als „Unabhängigkeitskämpfer“ gefeiert werden.

In der DDR fand eine volksdemokratische Revolution mit sozialistischer Zielsetzung statt, die durch die Anwesenheit sowjetischer Truppen erleichtert und abgesichert wurde. Daß sich die Angehörigen der vormals herrschenden Klassen und deren politischer Anhang einer solchen Entwicklung zu entziehen gedachten, verstand sich von selbst. Ihre Massenflucht zeugt eher von der Tiefe des Umsturzes und der Stabilisierung der neuen Gesellschaftsordnung. Angehörige der Bourgeoisie und ihnen dienstbarer Schichten verließen das Land, weil die Chancen einer kapitalistischen Restauration der alten Macht- und Eigentumsverhältnisse geschwunden waren. Die Illusion, die in diesem Kampf unterlegenen Angehörigen der gegnerischen Klasse und deren Gefolgschaft halten zu wollen oder zu können, gab es nicht.

In der Struktur der Nachkriegsbevölkerung auf späterem DDR-Gebiet gab es eine sehr wesentliche Besonderheit, die nicht verschwiegen werden sollte: die politisch-ideologische Verfaßtheit eines nicht geringen Teils der aus den vormals deutschen Ostgebieten und anderen europäischen Ländern ausgesiedelten Menschen.

Die Bevölkerung in Schlesien, Pommern, Ost- und Westpreußen hatte im Gegensatz zu der mehrheitlich christdemokratisch orientierten westdeutschen und der überwiegend die Sozialdemokraten bei Wahlen unterstützenden zentraldeutschen Einwohnerschaft zu Zeiten der Weimarer Republik zunächst massiv für die Deutschnationalen und dann majoritär für Hitlers NSDAP gestimmt. Ein Drittel der sich als Sudetendeutsche bezeichnenden Bürger der ČSR unterstützte die Faschisten Henleins. Auch die überwiegende Mehrheit der Deutschen in Ungarn, Rumänien und Jugoslawien war ähnlich orientiert.

12 Millionen Menschen aus den genannten Regionen wurden 1945/46 umgesiedelt. 1949/50 lebten 4,3 Millionen von diesen Maßnahmen Betroffene in der DDR – etwa 23 % der Bevölkerung. Die hohe Konzentration von Umsiedlern ergab sich daraus, daß die Sowjetische Besatzungszone den betroffenen Gebieten territorial am nächsten lag und viele der Neubürger auf eine baldige Rückkehr in ihre frühere Heimat hofften. Ein erheblicher Teil von ihnen fühlte sich in der durch Marxisten und deren Bündnispartner regierten DDR aus den bereits genannten Gründen politisch unbehaglich: Die Rote Armee war allenthalben präsent und bildete den Schutzschirm für die neue Entwicklung. Überdies ließ die DDR-Führung keinen Zweifel daran aufkommen, die Nachkriegsgrenzen zu akzeptieren und vertraglich abzusichern. Für Revanchisten war hier kein Platz.

Die konsequente Abrechnung mit dem Faschismus aber entsprach nicht den Vorstellungen jener, welche auf Grenzveränderungen setzten. Das war vor allem der Fall, nachdem sich die Beziehungen der DDR zu Volkspolen und der ČSR enger gestalteten. Ein zusätzlicher Umstand sollte hier nicht unerwähnt bleiben. Die DDR-Organe besaßen nun Zugriff auf verläßliche Nachweisquellen über die faschistische Vergangenheit nicht weniger Umsiedler.

Der Trend einer Abwanderung nach Westdeutschland, wo dem Revanchismus eine staatlich geförderte Heimstatt geboten wurde, war so erklärlich. Auch der schon bald erkennbare höhere Lebensstandard im Westen, der durch die Nichtzahlung von Reparationen und den Marshallplan abgesichert wurde, verhieß mehr als ein mit großen Mühen verbundener schrittweiser sozialer Aufstieg im Osten. Immerhin sollte am Ende jeder fünfte abgewanderte DDR-Bürger von gesellschaftlicher Relevanz ein Umgesiedelter sein.

Zudem versprach die BRD diesen nicht nur eine politisch-moralische „Würdigung“, sondern auch handfeste materielle Kompensation des Verlusts ihrer Besitztümer in der früheren Heimat. 1949 lebten in der BRD etwa 12 % aller Umsiedler. Diese Zahl sollte in den folgenden Jahrzehnten auf rund 20 % anwachsen. Sie stieg von 7,7 Millionen (1949) auf 10,4 Millionen (1981) an. Andererseits ging die Einwohnerschaft der DDR von 18,4 Millionen (1950) auf 17,2 Millionen (1960) zurück. Man kann also davon ausgehen, daß kein geringer Teil der „Republikflüchtigen“ aus den früheren Ostgebieten stammte.

Schild der „Royal Military Police“ an der Sektorengrenze
Schild der „Royal Military Police“ an der Sektorengrenze

Die West-Übersiedlungen alteingesessener DDR-Bürger, von denen etliche legal ausreisten, erfolgten nicht zuletzt aufgrund sie erheblich begünstigender Faktoren. Im Gegensatz zu den vor anderen Revolutionen Flüchtenden gingen sie viele Jahre völlig gefahrlos in ein angrenzendes Land mit gleicher Sprache und ähnlicher Kultur. Außerdem warb sie die BRD mit erheblichen materiellen Mitteln gezielt ab, um ihr eigenes Defizit an Fachleuten und Arbeitskräften bestimmter Wirtschaftszweige zu kompensieren. So befanden sich die ohne staatliche Genehmigung Abwandernden in einer privilegierten Position. „Republikflüchtige“ wie legale Umsiedler aus der DDR gingen oft nicht ins ungewisse. Besonders gut Ausgebildete hatten sich über Verwandte, Freunde und Institutionen schon lange vor ihrem Weggang eine oftmals lukrative Stellung im Westen gesichert. Viele Fachleute wurden zielgerichtet mit für sie vorbereiteten Arbeitsverträgen zu günstigen Konditionen abgeworben.

Die von der BRD und ihren Medien verbreitete These, die Übersiedler hätten sich in erster Linie für „Freiheit und Demokratie“ entschieden, trifft so nicht zu. Nur ein Teil der bis 1961 Abgewanderten fällte mit seiner Flucht in den Westen eine bewußte politische Entscheidung gegen die DDR. Zur Verblüffung der sie nach ihrer Ankunft in der BRD befragenden Medienmeute lobte fast jeder zweite Übersiedler gewisse Vorzüge des Lebens in der DDR. Das politische System der BRD war den meisten weithin unbekannt und stand auch nicht im Mittelpunkt ihres Interesses.

Eine Umsiedlung aus der DDR war ganz überwiegend nicht mit Gefahr für Leib und Leben verbunden. Man konnte die imaginäre und offene Grenze nach Westberlin mehr als ein Jahrzehnt lang völlig ungehindert überschreiten. Damals arbeiteten etwa 63 000 DDR-Bürger in Westberlin, welche die Grenze zweimal täglich passierten.

Die bis 1961 dorthin abwanderten, mußten nicht bei Nacht und Nebel hohe Mauern überwinden, sondern fuhren am hellichten Tag mit der S- oder U-Bahn für 20 Pfennig über die in Berlin als Sektorengrenze bezeichnete DDR-Staatsgrenze, an der es nur sporadisch Kontrollen gab. Diese Leichtigkeit des Abhauenkönnens verführte ganze Familien und besonders viele junge Leute zu diesem Schritt.

Bis heute fehlt es an exakten Daten zu dieser Problematik. Allein eine umstrittene Befragung von 3000 DDR-Flüchtigen, die im Juli 1961 erfolgt sein soll, bildet die bis heute einzige offizielle Darstellung aller „Fluchtmotive“ bis 1989.

Arbeiter der DDR verstärkten die Grenztruppen, um ihren sozialistischen Staat zu schützen.
Arbeiter der DDR verstärkten die Grenztruppen, um ihren sozialistischen Staat zu schützen.

Unterzieht man die von den Befragten angegebenen Gründe einer seriösen Analyse, dann ergibt sich folgendes Bild: 22 % hatten politische Motive. Bei 12 % erfolgte die Übersiedlung mit dem Ziel der Familienzusammenführung. 8 % waren Personen, die gegen DDR-Gesetze verstoßen hatten und mit Bestrafung rechnen mußten. 2 % wollten ihre Ehe aufkündigen und gingen zumeist mit neuen Partnern in den Westen. 9 % strebten – dieser Untersuchung zufolge – nach einem höheren Lebensstandard. Das darf in Zweifel gezogen werden, zumal nur 53 % der Befragten überhaupt bereit waren, Aussagen hierzu zu machen. Es ist also davon auszugehen, daß ihr Anteil den der aus politischen Motiven Weggegangenen um ein Mehrfaches überstiegen haben dürfte.

Für die meisten Übersiedler in den Westen gab es keinen unmittelbaren Zwang oder eine direkte Bedrohung. Die illegale Ausreise wurde mehrheitlich wie bei Emigranten über einen längeren Zeitraum vorbereitet.

Die Gründe für die Republikflucht hingen zweifellos eng mit der Existenz eines anderen deutschsprachigen Staates zusammen. Die meisten Übersiedler hätten sich vermutlich nicht zur Emigration entschlossen, wenn es sich bei dem Zielland beispielsweise um Frankreich oder skandinavische Länder gehandelt hätte.

Bei allen Problemen, die der DDR durch eine Vielzahl von Fluchten und Übersiedlungen entstanden, waren diese trotz der eintretenden Schwächung zu keinem Zeitpunkt für den sozialistischen deutschen Staat existenzgefährdend. Niemals drohten der DDR die Menschen davonzulaufen. Der Bevölkerungsschwund erreichte im Jahresdurchschnitt knapp ein Prozent. Die über sowjetische Kanäle wie Lutsch nach Moskau weitergemeldete Übertreibung, die DDR stünde „buchstäblich vor dem Ausbluten“, entsprach nicht den Tatsachen.

Angesichts der anhaltenden Verleumdungskampagne gegen die DDR scheint die Frage wichtiger, warum es die überwältigende Mehrheit ihrer Bürger eigentlich vorgezogen hat, selbst unter massivstem Druck des reicheren deutschen Staates und seiner alles durchdringenden Medien in ihrem Land zu bleiben, um unter schwierigeren Lebensbedingungen ein besseres Deutschland aufzubauen.