RotFuchs 227 – Dezember 2016

Menschen erzählen von ihrem zerrissenen Land

Syrien zwischen Schatten und Licht

Bernd Fischer

Karin Leukefeld: Syrien zwischen Schatten und Licht

Mit dem Buch „Syrien zwischen Schatten und Licht“ ist Karin Leukefeld – vielen als Berichterstatterin aus den Konfliktzentren des Nahen Ostens bekannt – ein großer Wurf gelungen. Als der Rezensent zu lesen begann, erwartete er ein Sachbuch. Das ist Leukefelds jüngste Arbeit tatsächlich. Der Leser findet eine beachtliche Wissensfülle, sowohl zur Zeitgeschichte als auch zur jüngeren Vergangenheit. Sie reicht vom Ringen um die Befreiung vom kolonialen Joch bis zur Gestaltung und Ausrichtung der nationalen Souveränität Syriens und seiner arabischen Nachbarländer. Dazu gehören die nationale Kultur ebenso wie die Darstellung des vielfältigen Lebens der Menschen in diesem Land und den angrenzenden Staaten.

Eine Zeittafel „100 Jahre Syrien 1916–2016“ bietet einen guten Überblick über die turbulente Geschichte, welche die Autorin auf 14 Seiten darstellt. Weitere acht Seiten Bibliographie und Begriffserklärungen werden nicht nur dem mit dem Nahen Osten noch nicht näher bekannten Leser von Nutzen sein.

Als Sachbuch im besten Sinne erweist sich Leukefelds Arbeit auch mit übersichtlich gestalteten Karten von Syrien und der Region des „fruchtbaren Halbmondes“ sowie zum Sykes-Picot-Abkommen von 1916 und den 1922 vom Völkerbund gebilligten Mandatsgebieten.

„Syrien zwischen Schatten und Licht“ ist zugleich lebendige Belletristik. Flüssig geschrieben, liest sich das Buch tatsächlich wie eine Erzählung. Das gelingt, weil „Menschen … von ihrem zerrissenen Land erzählen“. Und was für Menschen!

Auf 334 Seiten werden hundert Jahre syrischer und gesamtarabischer Geschichte lebendig – und das zugleich kompakt und doch überaus anschaulich. Quasi zum Auftakt zeichnet sie das Porträt des 1916 in al-Bassa, Palästina, geborenen Wissenschaftlers und Patrioten Yusif Sayigh und daran anschließend das des syrisch-libanesischen Nationalhelden Antoun Saadeh. Man spürt die warmherzige Sympathie der Autorin für die Porträtierten. Einbezogen sind auch deren familiärer Hintergrund und engste Angehörige, mit denen Karin Leukefeld persönlich verbunden ist. Das trifft auf alle zu, die der Journalistin offensichtlich sehr bereitwillig als Vermittler ihrer Traditionen sowie ihrer Sehnsüchte entgegenkamen. Schon mit der Schilderung des persönlichen und politischen Lebensweges dieser beiden herausragenden Persönlichkeiten sehr verschiedener Herkunft sowie des Baath-Politikers, Juristen und Geschichtsphilosophen George Jabbour erfaßt Leukefeld mehr als das erste halbe Jahrhundert der von ihr behandelten historischen Periode in der Region des „fruchtbaren Halbmonds“.

Die Autorin gliedert diese hundert Jahre in sieben Zeitabschnitte, die sie jeweils biographisch oder episodisch aus dem Leben ihrer Zeitzeugen illustriert. Zu Wort kommen neben den bereits Genannten Syrer, Libanesen, Araber, Kurden, Drusen, Tscherkessen – darunter Moslems und Christen der unterschiedlichsten Konfessionen und Richtungen wie auch Atheisten. Sie sind Politiker, Handwerker, Händler, Wissenschaftler, Künstler. Patriotische Oppositionelle, denen es um das Wohl des syrischen Volkes, nicht um den Sturz der gewählten legitimen Führung des Landes geht, sind gleichfalls darunter.

Ein herausragendes Anliegen Leukefelds, den Frauen in der arabischen Gesellschaft den ihnen gebührenden gewichtigen Platz zu geben, unterstreicht sie mit überzeugenden Beispielen ihres aktiven und gestaltenden Wirkens. Das Schlußkapitel titelt sie „Die Frauen werden Syrien wieder aufbauen“.

Karin Leukefeld erfaßt die Entwicklung in der Region von der Mandatszeit über die „Große Syrische Revolution“ (1925–1927) und die Erringung der staatlichen Unabhängigkeit bis zur Gegenwart des dem Land aufgezwungenen Krieges. Sie dokumentiert lange Phasen von imperialistischen Verschwörungen und innersyrischen Rivalitäten mit Putschen und Revolten. Anschaulich sind die andauernde westliche Einmischung und Erpressung dargestellt. Und Leukefeld zeigt, wie dem mit verschiedenen Ausprägungen des arabischen Nationalismus und mit Hilfe der Sowjetunion und ihrer Verbündeten begegnet wurde. In diesem Kontext analysiert sie auch die Bildung der Vereinigten Arabischen Republik mit Nassers Ägypten und deren Scheitern. Nachhaltig erinnert wird an die israelische Aggression und die arabische Niederlage im Sechstagekrieg mit Verlust der Golanhöhen 1967.

Zugleich wird die Entwicklung der Baath-Partei seit ihrem ersten Sieg in den Parlamentswahlen 1954 über Putsche und Niederlagen zur herrschenden Kraft vermittelt. Der gründlichen Charakterisierung der Ära des Hafiz Assad mit ihren tiefen Widersprüchen und dem gescheiterten Versuch der Wiedererlangung des verlorenen Territoriums im Oktoberkrieg 1973 folgt die Darstellung der inneren Auseinandersetzungen unter Hafiz und seinem Nachfolger. Mit der Analyse der Bemühungen um Stabilisierung und gleichzeitige Neuorientierung und Reformierung des Landes gelingt es ihr aufzuzeigen, wie es zum verhängnisvollen Krieg kommen konnte, der heute die Welt bewegt. Sie macht überzeugend klar, wie es durch die massive imperialistische und seitens der arabischen feudalen Reaktion betriebenen äußeren Einmischung zur gegenwärtigen Katastrophe gekommen ist. Sie legt offen, welche verhängnisvolle Rolle die dem syrischen Volk letztlich feindlichen Kräfte der untereinander zerstrittenen inneren und vor allem äußeren syrischen Opposition spielen.

Die Autorin, die mit bewundernswertem Mut bereits fast zwei Jahrzehnte vom Brennpunkt des Geschehens berichtet, zitiert zielsicher zur Charakterisierung der Situation aus innerer Sicht eine Aussage der Geschichtsprofessorin Sofia Saadeh, der Tochter des syrisch-libanesischen Nationalhelden Antoun Saadeh, von 2015: „Für mich ist völlig klar, daß wir einen neuen kalten Krieg haben. Wenn keine Lösung gefunden und Syrien aufgeteilt wird, kann es zu einem direkten, lange andauernden Krieg kommen. Doch was kann das Ziel eines solchen Krieges sein? Wenn die USA und ihre Verbündeten Syrien nicht kontrollieren können, dann geht es um Destabilisierung und Zerstörung. Und wir – Libanesen, Syrer, Palästinenser – bezahlen alle den Preis.“

Angesichts der aktuellen Situation ist dies ein Buch, das viele Fragen beantwortet und hilft, sich in der keineswegs übersichtlichen Nahost-Lage zurechtzufinden.

Karin Leukefeld:

Syrien zwischen Schatten und Licht
Menschen erzählen von ihrem zerrissenen Land

Rotpunktverlag, Zürich 2016, 334 Seiten
ISBN 978-3-85869-689-2

 24,00 €