RotFuchs 192 – Januar 2014

Tatortbesichtigung in Zingst

Hans-Jürgen Grebin

Im Oktober besuchten wir meinen alten Schulfreund G. S. in Zingst, den ich nach 65 Jahren durch das Internet wiedergefunden habe. Wir waren 1945/46 Schulkameraden in Reppenhagen-Welzin. 1947 trennten sich unsere Wege, weil seine Mutter als Haupternährerin der Familie eine Neubauernsiedlung anderen Ortes übernommen hatte. Beide teilten wir das Schicksal, ohne Väter, die uns der Krieg geraubt hatte, aufzuwachsen.

Seit 2012 sind wir nun wieder zusammen, wenn auch räumlich getrennt. Wir haben dieselbe Auffassung von der Welt und waren im Dienst unseres nach 40 Jahren untergegangenen Staates tätig gewesen. Er war Betriebsleiter des Volkseigenen Gutes (VEG) Zingst. Es handelte sich um eine Färsen-Aufzuchtstation auf dem Darß mit 15 000 Tieren in mehreren Stationen. Allein der Produktionsstall hatte eine Länge von 450 Metern.

Mit meinem Freund besichtigten wir den einstigen „VEG-Hafen“, wie das betriebseigene Klubgebäude genannt wurde. Heute ist es ein modernisiertes Hotel. Das einstige „Blaue Wunder“ – ein Gelände mit dem Lehrlingswohnheim – wurde abgerissen. Wohin wir auch kamen, überall hatte G. S. seine Spuren hinterlassen. Er besaß damals als ein verantwortlicher Wirtschaftsleiter die Fähigkeit, aus wenig viel zu machen und unkomplizierte Lösungen im Interesse der Menschen zu finden.

Das VEG prägte in jeder Hinsicht das Zingster Antlitz. Das spürten wir beim Durchfahren des Ortes. Die Häuser – mit umfassender Hilfe des Betriebes gebaut – ermöglichen es den einstigen Mitarbeitern, ihren Lebensabend in relativer Sicherheit zu verbringen. Auch die damals geschaffene Infrastruktur ist noch intakt. Unter der Arbeiter-und-Bauern-Macht diente all das nicht als Selbstzweck oder zur Beweihräucherung des Politbüros und vergrößerte auch nicht den Reichtum einzelner, sondern floß in das Volksvermögen ein, verbesserte irgendwie das Dasein aller.

Im Zuge der Rückwärtswende wurde das VEG durch die Treuhand aufgelöst und „abgewickelt“. Die Färsen verscherbelte sie an Gott und die Welt, die wertvollen Gebäude sollten abgerissen werden. Ein westdeutscher Käufer baute sämtliche Metallteile aus und verkaufte sie als Schrott, verlor dann aber die „Lust“. Übrig blieb ein Ruinengelände mit vordringender Natur.

Bei unserem Rundgang durch die Riesenanlage versuchte ich mich in die Gefühls- und Gedankenwelt meines Freundes zu versetzen, als er uns die jetzt völlig zerstörten früheren Funktionsgebäude erläuterte. Jeder Teil dieses landwirtschaftlichen Produktionsensembles war unter seiner Verantwortung, in seiner Regie entstanden. Später hatten die Frauen des Betriebes liebevoll und in freiwilliger Arbeit wunderschöne Rabatten angelegt und gepflegt.

War G. S. verbittert, weil er sein Lebenswerk so sinnlos zerstört sah? Sicher, doch er hatte sich nicht in sein Innerstes zurückgezogen, sondern ist der aktive, energische, freundliche und verträgliche Mensch von einst geblieben.

Warum mußte diese wertvolle Anlage durch die Treuhand „abgewickelt“ werden? Behauptet wurde, sie könne nicht in einem Nationalpark weiterbestehen, der durch die „DDR“-Regierung de Maizières am 20. September 1990 geschaffen wurde. Das Argument ist wenig schlüssig, hat doch gerade das VEG Zingst Grundlegendes für die Erhaltung der Umwelt geleistet.