RotFuchs 215 – Dezember 2015

Wie der IS Syriens Kulturdenkmäler systematisch zerstört

Terroristen in religiöser Maskierung

Edda Lechner

In Syrien befinden sich einige der bedeutendsten Stätten mit Kulturdenkmälern des Orients und der ganzen Welt. Schweizer Archäologen haben erst vor 20 Jahren in dem Dorf El Kown Steinwerkzeuge aus der frühesten Zeit der Menschheitsgeschichte entdeckt. Dieses damals fruchtbare Gebiet im Norden des Landes war schon vor 2,5 bis 1,5 Millionen Jahren ein Durchgangsgebiet für die ersten Menschen, die von Afrika nach Asien und später nach Europa auswanderten. So fanden die Archäologen dort Schädel und Steinwerkzeuge vom Homo erectus und dem Pekingmenschen, etwa 12 415 Faustkeile und 15 000 Tierknochen. In Syrien wurden die Landwirtschaft und die Viehzucht „erfunden“, einige Jahrtausende bevor sie auch in unseren Breiten Einzug hielt.

Am 25. August stellte der IS dieses Foto von der Sprengung eines römischen Tempels Palmyras ins Internet.

Die frühen Hochkulturen der Sumerer und Mesopotamier hatten ihre Niederlassungen ebenfalls in Syrien: bei Mari am Euphrat und Tel Mardikh/Ebla am Orontes. Die nachfolgenden kleinasiatischen Stadtstaaten am Mittelmeer bauten Häfen, Paläste und Tempel in Ugarit und Tell Halaf, einer Siedlung, die der deutsche Archäologe Oppermann seit 1899 bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts ausgegraben und deren Schätze er in das Berliner Pergamon-Museum überführt hat. Nicht anders verhielten sich die Franzosen im Umgang mit den Artefakten aus Mari und Ugarit, die sich im Pariser Louvre befinden.

Was hellenistisch-römisch ist, steht in Form von großen weitflächigen Ruinen in Syrien – in Apamea, Palmyra und Bosra – oder in Gestalt zahlreicher Kleinsttempel etwa in der Provinz Deraa im Landessüden. Um sie herum scharten sich dann vom 1. bis 7. Jahrhundert die frühen christlichen Klöster und Kirchen, ebenfalls in Deraa, in den „Toten Städten“ des Nordens nahe Idlib – im sich heute noch aramäisch, der Sprache Jesu – artikulierenden Maalula und in Sednaya.

Der Welt erste christliche Hauskirche (erkennbar am vorhandenen Taufbecken) aus dem 3. Jahrhundert unserer Zeitrechnung befindet sich in Dura Europos im Osten an der Grenze zum damals mächtigen Achamidisch-Persischen und Sassanidischen Reich. Gleich daneben steht eine jüdische Synagoge, deren heute im Museum in Damaskus befindliche Wandbilder die Verbundenheit von orientalischer und westlicher Malkunst deutlich erkennen lassen.

Schließlich ist Syrien voller Baudenkmäler aus der im 7. Jahrhundert beginnenden islamischen Zeit: Moscheen, Medresen (Schulen), Suks (Marktstraßen), Kahne (Hotels für die Unterbringung von Mensch und Kamel), Zitadellen, Wüstenschlösser, Paläste und Burgen sind über das ganze Land verteilt. Die prächtigsten und ältesten Moscheen befinden sich in Damaskus und Aleppo, von wo aus Nur ed-Din das Land nach den Kreuzzügen wieder groß machte.

Eine Besonderheit in Syrien sind die vom 11. bis zum 13. Jahrhundert durch die „fränkischen“ Kreuzfahrer erbauten mächtigen Burgen entlang dem Küstenweg mit Marqu Krak de Chevalier und Qalaat Sayjun (dessen Name an den Befreier Saladin erinnert), um sich in einem eroberten und feindlich gesonnenen Land halten zu können.

Seit 2011 findet in Syrien ein blutiger Bürgerkrieg zwischen Assads Regierungs­truppen und den regimefeindlichen Allianzen der Al-Nusra-Front, der Dschaisch al Fatah sowie den Dschihadisten des Islamischen Staats (IS) statt. Neben den menschlichen Tragödien, die sich in diesem kriegsgeschüttelten Land abspielen und Millionen Flüchtlinge nach Europa und „bis vor unsere Haustüren“ bringen, haben auch die bewußte Zerstörung von der UNESCO als Weltkulturerbe anerkannter Stätten für weltweite Empörung gesorgt. Selbst eine „uneinnehmbare“ Burg wie die von Krak de Chevalier konnte der modernen Kampftechnik nicht standhalten. Mit den Wohnvierteln der Menschen brechen auch die Kulturdenkmäler wie Kartenhäuser zusammen. Seit Anfang 2015 nahm der IS so bedeutende Städte wie den Luftwaffenstützpunkt Idlib, Bosra an der jordanischen Grenze und Aleppo ein. Hier sind Zitadelle und Moschee weitestgehend vernichtet.

Noch empörender ist es für die Syrer und viele Menschen in aller Welt, daß es sich bei den Zerstörungen jetzt nicht „nur“ um militärische Folgen, sondern um eine systematische Vernichtungskampagne handelt. Die sogenannten Gotteskrieger des IS hatten bis Anfang Oktober in vielen wichtigen Städten Syriens eine Fülle von bedeutenden Kulturdenkmälern, Museen, Statuen und Artefakten unter ihre Kontrolle gebracht. Das zeichnete sich am gespenstischsten in Palmyra ab – einer der schönsten Ruinen-Metropolen an der orientalischen Seidenstraße. Es war einst eine wohlhabende Oasenstadt zwischen Rom und dem persisch regierten Zweistromland. Nach erbitterten Kämpfen wurde Palmyra am 20. Mai von den Dschihadisten eingenommen. Sie griffen wenig später zwei Mausoleen von Ali Iben-Taleb – einem Verwandten des Propheten Mohammed – an. Im Laufe des Monats August wurden der kleinere Baalschamin-Tempel und danach der große Baals-Tempel attackiert. Beide waren vor 2000 Jahren in späthellenistischer Zeit zu Ehren des altbaby­lonischen Sonne-Mond-Gottes Baal errichtet worden. Schließlich bemächtigten sie sich dreier am Rande der Wüste in spätrömischer bzw. in frühchristlicher Zeit gebauter Familiengräber mit Türmen. Einen Monat zuvor hatten die IS-Terroristen den von ihnen gefangengenommenen syrischen Chefarchäologen Khaled al Asaad, der vermutlich vor dem IS-Einmarsch noch Kunstgegenstände in Sicherheit gebracht und versteckt hatte, enthauptet und seinen Leichnam zerstückelt.

Was bewegt nun die von aller Welt als barbarisch gebrandmarkten IS-Terroristen zu solchen Taten? Am 4. Juli 2014 hatte ihr Führer Abu Bakr al-Baghdadi die Kanzel der Großen Moschee in Mosul bestiegen und sich selbst zum Khalifen des wieder­erstandenen „Islamischen Staates“ ausgerufen. Ein solcher Titel und der dazu­gehörige Staat wurden mehr als eineinhalb Jahrtausende durch den religiösen und politischen Herrscher der islamischen Welt benutzt, zuletzt unter der Herrschaft des Osmanischen Reiches. Mit Gründung der türkischen Nationalversammlung im Jahre 1924 schaffte dessen letzter Vertreter Mustafa Kemal Atatürk diesen Titel und den damit verbundenen Anspruch offiziell ab. Das hinderte indes islamistische Bewegungen nicht daran, deren Wiedereinführung zu verkünden. Nach dem plötzlichen Tod Mohammeds im Jahre 622 wurde als erster unmittelbarer Nachfolger Abu Bakr – Schwiegervater und Gefolgsmann des Propheten, nach dem sich der heutige IS-Anführer nennt – zum Khalifen erklärt und mit allen Vollmachten für die religiösen und politischen Belange des Islam ausgestattet. Ihm folgten weitere „gerechte“ (richtige, wahre) Khalifen.

Danach spalteten sich die theologischen und politischen Richtungen in viele verschiedene Gruppierungen mit den entsprechenden Herrscherpersönlichkeiten auf. Sunniten und Schiiten sind wohl am bekanntesten. Der heutige Anführer des IS beruft sich auf den sunnitischen Ursprung. Der Namenszusatz al Baghdadi soll ebenfalls der Legitimation dienen. Das im 8. Jahrhundert mächtig und groß gewordene Weltreich der Abbasiden, die von Bagdad aus über ein riesiges Gebiet herrschten, will der IS zurückerobern. Sein derzeitiger Anführer greift wie andere selbsternannte Herrscher mit solchen Ambitionen in die Sammelkiste des Islam, um sich vor seinen Mitkämpfern zu legitimieren. So haben es alle Fundamentalisten – ob islamisch, jüdisch, christlich oder unreligiös – stets gehandhabt.