RotFuchs 190 – November 2013

Über Beine, die wir uns
selbst gestellt haben

Wilfried Steinfath

Die DDR ist sicherlich nicht deshalb von der Bildfläche verschwunden, weil Zehntausende ihrer Bürger 1989 auf die Straße gegangen sind. Sie ist auch nicht untergegangen, weil „von denen da oben“ bestimmte Fehler gemacht wurden. Selbst die immer wieder beschworene fehlende „Reisefreiheit“ und der offensichtliche Mangel an Bananen haben ihr nicht das Genick gebrochen. Der Verrat Gorbatschows und seiner Clique spielte mit Gewißheit eine ganz maßgebliche Rolle. Und sicher trug die ökonomische Überlegenheit unserer Gegner – nicht zuletzt auch aufgrund der zu niedrigen Arbeitsproduktivität als einem Schlüsselproblem bisheriger sozialistischer Gesellschaften in Europa – wesentlich dazu bei, daß wir in dieser Runde der Geschichte noch nicht siegen konnten. Natürlich hat jeder seine eigene Sicht auf Gründe der Niederlage. Ich möchte einige Gedanken dazu beisteuern.

1954 in der DDR geboren, entschloß ich mich 1973, nach Absolvierung der 10klassigen Polytechnischen Oberschule (POS) als zu dreijährigem Dienst bereiter Zeitsoldat in die bewaffneten Organe der DDR einzutreten. Schon nach der Grundausbildung war für mich klar, Berufssoldat werden zu wollen. Zur gleichen Zeit bat ich um Aufnahme in die Partei der Arbeiterklasse. Bereits als Schüler hatte ich in Mecklenburg eine örtliche Grundorganisation unseres Jugendverbandes – der FDJ – geleitet.

Als Kandidat der SED mußte ich mich bewähren. Doch das, was ich erlebte, stand im Kontrast zu meinen Erfahrungen aus der FDJ. Schon die erste Versammlung der Abteilungs-Parteiorganisation verließ ich mit gemischten Gefühlen. Man diskutierte lang und breit über die „große Politik“. Selbst sonst eher wortkarge Genossen hielten auf einmal lange Vorträge, während Probleme, die uns buchstäblich auf den Nägeln brannten, keine Erwähnung fanden. Der Dienstvorgesetzte stellte fest, wir stünden im sozialistischen Wettbewerb „gut da“. Dabei war mir nicht einmal aufgefallen, daß es bei uns so etwas gab. Als Neuling sagte ich mir zunächst: Im großen Berlin ticken die Uhren eben anders, als in einem mecklenburgischen Dorf.

Doch jede APO-Versammlung spielte sich nach dem gleichen Muster ab. Von der Leitung wurden Themen vorgegeben und einzelne Genossen beauftragt, dazu Redebeiträge auszuarbeiten. Wortmeldungen außerhalb dieses Schemas wies man in der Regel mit der Begründung zurück, sie sprengten den vorgegebenen Zeitrahmen. So etwas kannte ich von unseren FDJ-Versammlungen nicht. Da konnte jeder, wie ihm der Schnabel gewachsen war, das sagen, was ihm am Herzen lag.

Nach dem Wechsel in eine andere Diensteinheit erlebte ich einen frappierend ähnlichen Versammlungsablauf. Tagungen des ZK der SED wurden langatmig bis zum letzten Komma „ausgewertet“, die Realität unseres Alltags aber fiel unter den Tisch. Wenn ein Genosse sagte, er wolle auf der nächsten APO-Versammlung das Problem XYZ zur Sprache bringen, gab es unter uns einen bitteren Spruch: „Da kannst Du Dich ja gleich an die Jerusalemer Klagemauer stellen. Dort passiert auch nichts.“

Einmal erhielt ich den Auftrag, eine Reportage Lothar Loewes, des BRD-Fernsehkorrespondenten in der DDR, „zu behandeln“. Unter Verwendung einer Floskel Karl Eduard von Schnitzlers schloß ich mit den Worten „Gut gebrüllt, Loewe!“ Als ich dem noch ein paar improvisierte Sätze hinzufügen wollte, belehrte mich der APO-Sekretär: „Genosse, Du willst doch Deinen guten Vortrag nicht etwa mit einer kleinlichen Fehlerdiskussion beenden. Wir müssen immer das Große und Ganze im Auge behalten.“

Als früheres Mitglied der SED, aus der ich übrigens nie ausgetreten bin, lautet mein Fazit: Wir waren viel zu wenig bereit, uns den wirklichen Problemen im Lande zu stellen. Dabei haben wir nicht erkannt, daß auch in einem sozialistischen Land die Macht nicht „gottgegeben“ ist, sondern wie das Vertrauen des Volkes täglich neu erstritten und behauptet werden muß.