RotFuchs 227 – Dezember 2016

Über die unterschiedliche „Bewältigung“ des Faschismus in Ost und West

Franz Tallowitz

Der im Oktoberheft veröffentlichte Beitrag von Hermann Kant „Wie mir der Antifaschismus aufgezwungen wurde“, geschrieben schon 1993, hat auch heute, mehr als 20 Jahre danach, nichts von seiner Aktualität und Bedeutung verloren. Wir sind gegenwärtig Zeuge, wie 70 Jahre nach dem Sturz des Faschismus in Deutschland so nach und nach, etwas verschämt und bestimmt lieber verschwiegen, die Fakten der „Entnazifizierung“ in der Bundesrepublik aufgearbeitet werden. Vor wenigen Jahren erschien das Buch über Nazis im Auswärtigen Amt der BRD, jetzt die Dokumentation zu Faschisten im Bundesjustizministerium. Sogar am „Braunbuch“, in den 60er Jahren in der DDR veröffentlicht, das Hunderte von Kriegs- und Naziverbrechern nannte, die in der Bundesrepublik und in Westberlin wieder in Ämter kamen, kommt man nicht vorbei.

Es wird zugegeben: Ja, es gab sie bis in den Spitzen der Ministerien, ganze Abteilungen waren mit ihnen besetzt, selbst nachgewiesene Verbrechen, gefällte Todesurteile wurden nicht verfolgt, wurden kleingeredet oder verschwiegen. Ja, man hat sie gebraucht, ihre Gesinnung, ihren Antikommunismus, ihre Ost-Erfahrung, ihre Bereitschaft, sich im kalten Krieg nützlich zu erweisen. Das Echo in den Medien zu dieser so späten Aufarbeitung hält sich in Grenzen. Ein paar kurze Meldungen, eine Diskussion bei „phoenix“ … Aber auch da wird eine Frage nicht gestellt: Wie ist die BRD – der andere deutsche Staat – mit dieser Vergangenheit umgegangen? Warum kamen dort Justiz, Bildungswesen, Kultur, Armee oder auch die Diplomatie sowie der ganze Staat nicht ohne diese Leute aus? Eine weitere Frage wird bewußt vermieden: Welchen Einfluß hatten diese angeblich „entnazifizierten“ Nazis auf die Gesellschaft, den Staat, die junge Generation? Welche Leitbilder wurden weitergetragen, welche Legenden entwickelt?

Hermann Kant zeigt in seinem überzeugenden und unter die Haut gehenden Beitrag, welche Bedeutung die Antifaschisten hatten, die im Osten darangingen, einen Staat aufzubauen, in dem solche Verbrechen nie wieder möglich sein würden. Er nennt die Namen, die Vorbilder für die Generation wurden, welche diesen Staat vierzig Jahre führte. Er nennt jene, die aus dem Exil zurückkamen, die KZs und Zuchthäuser überlebten, die in der Roten Armee, bei Titos Partisanen oder in der Resistance am Kampf gegen den Faschismus teilgenommen hatten.

Ich selbst habe im außenpolitischen Dienst diese Menschen erlebt, die ihr Wissen, ihre Lebenserfahrung und ihre Vision eines anderen Deutschland umsetzten und sie der jungen Generation weitergaben. Ich erinnere mich an Johannes König, Stefan Heymann, Rudi Jahn, Rudolf Helmer, Fritz Große, Georg Handke, welche die KZs in Auschwitz, Buchenwald, Dachau, Mauthausen und das Zuchthaus Waldheim überlebten, an Rudolf Dölling, Horst Brie, Rudolf Appelt, Bernhard Koenen, Änne Kundermann und Herbert Fischer, die aus der Emigration aus Moskau, Peking, Mexiko, der Schweiz, Schweden und Indien zurückgekehrt waren. Ehemalige Spanienkämpfer wie Fritz Johne, Eduard Claudius, Gerhard Henke, Karl Kormes, Karl Mewis, Georg Stibi, Walter Vesper waren dabei, wie auch Ernst Scholz, der in der Resistance kämpfte, und Stefan Doernberg aus der Roten Armee. Nicht zu vergessen Sepp Schwab, Otto Winzer oder Klaus Gysi, die sich schon vor der „Machtergreifung“ der Nazis mit diesen auseinandersetzten. Sie alle wurden Botschafter oder vertraten die DDR auf internationalem Parkett. „Nie wieder Krieg!“ und neues Vertrauen in ein anderes Deutschland, das gaben sie weiter. Das Beispiel ihres Kampfes wurde zum Credo einer ganzen Generation junger Diplomaten. Das war der in der DDR „verordnete“ oder, wie Kant sagt, der „aufgezwungene“ Antifaschismus.