RotFuchs 215 – Dezember 2015

Vor 40 Jahren studierte ich am
Leningrader Polytechnischen Institut

Unvergeßliche Eindrücke

Cilly Keller

Unsere Autorin ist Jahrgang 1953 und Diplomingenieur. Sie gehört dem Verein der Berliner Freunde der Völker Rußlands e.V. an und berichtet im Folgenden über Erlebnisse während ihrer Studienzeit in der UdSSR.

Es waren keine leichten Prüfungen im zweiten Studienjahr 1974, obwohl ich mich schon etwas an den Streß von jeweils fünf Examen nach jedem Semester gewöhnt hatte. In den Monaten Mai und Juni wollte die Sonne tagsüber zum Baden am Finnischen Meerbusen verführen, nachts standen die Weißen Nächte vor dem Fenster und luden zu einem Spaziergang an der Newa ein. Aber statt dessen büffelten wir auf der Bude für die Prüfungen in Werkstoffkunde, Theorie der Übergangsprozesse in Hochspannungsfreileitungen oder Relaisschutz in Energiesystemen …

Viele der DDR-Studenten des Leningrader Polytechnischen Instituts, das Kalinins Namen trug, fuhren anschließend nach Hause. Ich nutzte indes meine Ferien, um die Sowjetunion und deren Menschen besser kennenzulernen. Was lag da näher als die Teilnahme an einem der internationalen Studentenlager! Ljuba Semitschenkowa, mit der ich das Zimmer im Wohnheim teilte, organisierte im Auftrag der Komsomolleitung des Wyborger Stadtbezirks die Leningrader Baubrigaden-Einsätze. Sie verhalf mir und Studenten des Staatlichen Pädagogischen Instituts „Alexander Herzen“ sowie angehenden Ärzten aus Vietnam und ungarischen Studenten des Radiotechnischen Instituts zu einer Fahrt gen Süden – in das Gebiet um Stawropol. Ich erhielt eine kleine rote Klappkarte mit der Aufschrift „Komsomolskaja putjowka – Komsomol­auftrag“.

Schon in den frühen Jahren der UdSSR begeisterte sich die Jugend für neue Technik. Unser Foto aus jener Zeit wurde in Moskau aufgenommen. Hier lassen sich Schülerinnen die Funktionsweise eines Filmprojektors erklären.

Unsere Studentenbrigade trug den Namen Helios – Sonne. Ein ganzer Zug mit jungen Leuten fuhr in Richtung Stawropol. Zielort war das Dorf Gornosawodskoje, ungefähr 50 Kilometer von Naltschik, der Hauptstadt Kabardino-Balkariens, und nur 90 Kilo­meter vom 5633 m hohen Elbrus entfernt.

Der Juli 1974 war heiß. So empfahl es sich, dem Rat der Lagerleitung zu folgen und Beine wie Arme in den ersten Tagen vor der Sonne zu schützen, indem man bei der Feldarbeit stets Jacke und Hose trug. Wir beteiligten uns an der Gurkenernte. Die Truppe, die im August weiter da blieb, hatte etwas süßere Früchte – Melonen – von den Feldern zu holen.

Wir wohnten in der Dorfschule, da die Kinder ja schon den zweiten Monat Ferien hatten. Metallbetten mit superweicher Federung und jeweils zwei Bettlaken standen uns zur Verfügung: das eine,um darauf zu liegen, das andere als Zudecke. Doch selbst das war uns viel zu warm.

Für die Essenzubereitung mußten wir selbst sorgen. Jeder war einmal mit Kartoffel­schälen an der Reihe. Es gab „Tage der Länder“, an denen vom Frühstück über das Mittagessen bis zum Abendbrot mit der anschließenden Kulturveranstaltung die vietnamesischen, ungarischen und sowjetischen Studenten, aber auch die einzige Teilnehmerin aus der DDR zu gestalten hatten. Ich bekam das mit Nudelsalat und Würstchen zum Mittag und Sologesang am Abend auf die Reihe. Jedenfalls waren die Leute zufrieden.

Die Atmosphäre im Lager führte zu manchen Freundschaften. Mein besonderes Interesse erweckte Nikolai Schtschepin – mit anderen Worten: Kolja. Er war für Fotografie und Wandzeitungsgestaltung zuständig. Seine jeweils neuesten Aufnahmen wurden stets am nächsten Tag ausgehängt. Auch ich beteiligte mich. Kolja malte nicht zuletzt wunderschöne Ölbilder. Und so saßen wir eines Tages gemeinsam vor einem Sonnenblumenfeld und ließen uns inspirieren – er mit Farbe und ich mit Bleistift, wobei zwischendurch ständig Sonnenblumenkerne „entpelzt“ wurden.

Mein Kontakt zu Kolja sollte mir helfen, als einzige unter den Ausländern mit sowje­tischen Studenten an einer Exkursion in die kaukasischen Berge teilnehmen zu dürfen. Unser Ziel war der Elbrus. Die Kabardiner nennen ihn Oschchamacho – Berg des Glücks.

Das Kaukasusgebirge, das die Landenge zwischen dem Schwarzen und dem Asowschen Meer durchzieht, beeindruckt den Ankömmling mit scharfkantigen Kämmen von bis zu 4000 m Höhe, tiefen felsigen Schluchten, schäumenden Gebirgsbächen und Hochlandwiesen voller Blumen. Ich hatte die Möglichkeit, mit Angehörigen einiger der über 40 im Kaukasus lebenden Völker Bekanntschaft zu schließen. Von ihnen erfuhr ich, daß der an den Felsen gefesselte Prometheus der griechischen Sage in den mündlichen Überlieferungen mancher dortiger Legenden ebenfalls eine Rolle spielt, wobei er hier den Namen Pcharmat trägt.

Unser kleiner Bus fuhr auf der Hin- und Rückfahrt durch Naltschik, die Hauptstadt der ASSR (Autonome Sozialistische Sowjetrepublik) Kabardino-Balkarien. 1917 waren 98 % der dort Lebenden Analphabeten – 1970 nur noch 0,3 %.

Bei einer Unterbrechung unserer Fahrt schloß ich mit drei netten Jungs aus Babugent Bekanntschaft. Die Tatsache, daß sich eine Studentin aus der DDR unter den Bus­insassen befand, erweckte ihr Interesse. Spontan schenkte mir das muntere Trio ein 1971 erschienenes Buch über die damals 50jährige Geschichte von Kabardino-Balkarien. „Dem Mädchen Zilli von den Gorzy – den Bergbewohnern – zur Erinne­rung“, schrieben Suleiman, Chakim und Wladimir hinein.

Keiner von uns konnte 1974 auch nur im entferntesten ahnen, daß der Kaukasus rund 30 Jahre später mit Krieg überzogen sein würde. Auch um Kabardino-Balkarien machte er keinen Bogen.