RotFuchs 224 – September 2016

Völkermord statt Holocaust

Lene Zade

Der Roman „Wie der Stahl gehärtet wurde“ von Nikolai Ostrowski gehörte zur Schullektüre in der DDR, was noch nicht sehr viel darüber sagt, ob und wie intensiv er gelesen wurde. Gerade das nicht zu lesen, was die Schule vorschreibt, gehörte zu den harmlosen, weil ungefährlichen Akten oppositionellen Verhaltens. Diese Leseverweigerung des Vorgeschriebenen kann jedoch eine Langzeitwirkung haben.

Dem Potsdamer Journalisten Matthias Krauß fiel die Gewißheit auf, mit der Erwachsene, die in der DDR zur Schule gingen, heute behaupten, im Unterricht nie etwas vom Holocaust gehört zu haben, auch jüdische Autoren wären nie behandelt worden. Nun gehört Matthias Krauß, der 1960 geboren wurde und in Hennigsdorf zur Schule ging, zu den Menschen, die nie den Keller ihrer Eltern entrümpeln und die alten Schulhefte endlich wegschmeißen. Er hat sie alle noch – und verglich die allgemeine Gewißheit, die DDR hätte vom Judenmord geschwiegen, mit seinen Schulaufzeichnungen. Er fand seine frühen Vorbilder, Egon Erwin Kisch und Heinrich Heine, die beide mit spitzer Feder und persönlichem Engagement als Journalisten schrieben. Und er erinnerte sich an seine Leseeindrücke von Isaak Babels „Reiterarmee“ und Friedrich Wolfs „Professor Mamlock“, an die dort geschilderten Judenpogrome und die rechtliche Ausgrenzung und Demütigung von Juden.

Als Journalist machte sich Krauß ans Recherchieren, fand heraus, daß es seit 1952 einen für die gesamte DDR verbindlichen Einheitslehrplan gab. Er prüfte alle Lehrbücher von der 6. bis zur 12. Klasse und die dazu herausgegebenen pädagogischen Materialien – und verglich beides mit seinen Aufzeichnungen. Entstanden ist daraus ein Buch: „Völkermord statt Holocaust. Jude und Judenbild im Literaturunterricht der DDR“.

Als erster Leser und Kritiker des noch druckfrischen Buches zeigte sich der in der Bundesrepublik aufgewachsene Generalstaatsanwalt Erardo C. Rautenberg überrascht. Von den im Buch vorgestellten Texten, u. a. von Bruno Apitz, Johannes R. Becher, Jurek Becker, Lion Feuchtwanger, Anna Seghers, Arnold Zweig, kannte er nur Lessings „Nathan der Weise“. Die Vielfalt und Differenziertheit der Texte würden die Vorurteile, die DDR sei antisemitisch gewesen und habe die NS-Zeit nie aufgearbeitet, widerlegen. Ihm als Wessi sei einmal mehr ein Klischee über die Ossis abhanden gekommen. Angeregt durch das Buch, verglich er die Lesebiographie von Krauß mit seiner eigenen, erinnerte sich an seine alten, damals noch im Dienst befindlichen Nazilehrer und daran, wie die heute gern übel beleumundeten 68er gegen das Verschweigen der Schuld, das die Demokratie der Bundesrepublik zu schädigen begann, auf die Barrikaden oder die Sitzreihen der Hörsäle stiegen. Für die aktuellen innerdeutschen Diskussionen wäre es aufschlußreich, wenn ein ähnliches Buch über die Schullektüre in der Bundesrepublik geschrieben würde.

„Potsdamer Neueste Nachrichten“, 22. März 2007