RotFuchs 202 – November 2014

Vom Mauerfall zum Kriegsfall

Klaus Steiniger

Vor einigen Monaten bat mich ein Journalist der „New York Times“ – des renommierten bürgerlich-liberalen Blattes der Vereinigten Staaten – um ein Interview. Er arbeitete an einem Buch über die „Wende 1989/90“ und wollte – außer den ihm hinlänglich bekannten Standpunkten anderer Art – auch die Meinung von Zeitzeugen aus der DDR einholen. Da mir der Berufskollege aus Übersee – ganz im Geiste des stets an Fakten orientiert gewesenen Peter Scholl-Latour – ein sachlicher Mann zu sein schien, stand ich ihm Rede und Antwort. Im Dialog mit US-Journalisten hatte ich ja bereits 1972 in Kalifornien beim Prozeß gegen Angela Davis hinlänglich Erfahrungen sammeln können. Dort war ich monatelang fast der einzige „rote Hecht“ im Karpfenteich Hunderter bei Gericht akkreditierter Berichterstatter der inländischen Medien.

Was aber wollte der Besucher aus New York in Erfahrung bringen?

„Warum habt Ihr die Mauer gebaut?“, begann er unser Gespräch mit einer Routinefrage. Bevor ich zur Darlegung meines Standpunktes kam, schlug ich einen Pflock ein: „Die Mauer war das häßlichste und zugleich wichtigste Bauwerk, das die DDR jemals errichtet hat. Sie trug entscheidend dazu bei, daß zwischen 1961 und 1989 in Europa Frieden herrschte.“ Ich befand mich durchaus in Übereinstimmung mit USA-Präsident John F. Kennedy, der durch die Ereignisse des 13. August nicht in Panik geraten war und nüchtern bemerkt hatte: „Die Mauer ist nicht schön, aber besser als ein Krieg.“

Tatsächlich stand unser Kontinent damals am Abgrund eines bewaffneten Konflikts der Staaten beider Weltsysteme, der unweigerlich unter Einsatz von Kernwaffen ausgetragen worden wäre. Bonns seinerzeitiger Kriegsminister Franz-Josef Strauß hat ja in seinen Memoiren festgehalten, er sei vom Pentagon ersucht worden, „für einen nuklearen Erstschlag geeignete sowjetische Ob-jekte auf dem Territorium Ostdeutschlands“ auszuwählen.

Der Bau der Berliner Mauer – soviel Unglück sie auch den von Trennung Betroffenen ge-bracht hat –, war ein Millionen Leben rettender Glücksfall, ihr plötzlicher Abriß bei allen Erleichterungen für die Menschen aber eine historische Katastrophe.

Denn der „antifaschistische Schutzwall“, wie das Bauwerk offiziell bezeichnet wurde, hielt nicht nur 16 Millionen DDR-Bürgern für nahezu drei Jahrzehnte die im Westen ansteigende braune Flut vom Leibe, sondern bewahrte – als vorderste Verteidigungslinie der Staaten des Warschauer Vertrages gegen den NATO-Kriegspakt – auch ganz Europa vor den Schrecknissen eines gigantischen Zusammenpralls.

Als die Mauer stand, waren wir nicht nur vor dem heute wieder in ganz Deutschland kassierenden Kapitalistenpack verschont, sondern auch vom Horror des Krieges, mit dem die imperialistische Hauptmacht zuerst Korea und Vietnam, dann aber auch andere Staaten außerhalb Europas überzogen hatte. Nach dem Mauerfall – so die heutige Sprachregelung – gab es auf unserem Kontinent grünes Licht für den Kriegsfall. Hillary Clinton befahl ihrem Mann Bill – dem ihren Weisungen gehorchenden USA-Präsidenten – mit den Worten „Bomb Belgrade!“ den Angriff auf Jugoslawien. Auch Maschinen der Bundesluftwaffe attackierten Ziele in dem überfallenen Balkanstaat. Die Brücke von Varvarin wurde zum Symbol des Schreckens.

Doch der Überfall auf Jugoslawien war nur der Auftakt zum großen Morden in Afghanistan und Irak. Inzwischen brennt es an vielen Ecken der Welt lichterloh. Die von Saudi-Arabien und Katar – zwei engen Verbündeten der USA – im Auftrag Washingtons geschaffenen, radikal-islamistischen Mordbanden des IS haben der Obama-Administration und deren NATO-Partnern den Vorwand für ihren als „humanitäre Aktion“ getarnten Einfall in das ölreiche Kurdistan geliefert. Mehr als das: Die Rückkehr der US-Streitkräfte nach Irak setzt sich längst in einer weiteren „Anti-IS-Intervention“ fort, die in der „Befreiung Syriens vom Assad-Regime“ gipfeln soll.

Eine enorme Gefahr, die zu Zeiten des Bestehens der nicht zuletzt von Berlins Mauer beschirmten sozialistischen Staatengemeinschaft undenkbar gewesen wäre, stellt die massive Bedrohung Rußlands durch die Ostexpansion der NATO dar. Die von Washington, Brüssel und Berlin aus gelenkte „Macht-ergreifung“ des mit unmaskierten Faschisten durchsetzten Kiewer Klüngels schockiert die demokratische Weltöffentlichkeit. Besonders apart ist dabei die Tatsache, daß Frau Merkel die Errichtung einer ukrainischen Mauer zu Rußland ebensowenig beanstandet wie Israels Apartheid-Mauer im Westjordanland oder die Mauer der USA zu Mexiko, mit der dem Zustrom Hungernder aus Lateinamerika Einhalt geboten werden soll.

Wenn sich die Menschheit heute wieder – wie vor dem 13. August 1961 – mit einer globalen Kriegsdrohung konfrontiert sieht, dann gibt es dafür nur einen Grund: Das Wegbrechen der sozialistischen Staatengemeinschaft Europas als des Garanten friedlicher Koexistenz. Wir haben immer gesagt: Sozialismus bedeutet Frieden, während Imperialismus ständig neue Aggressionskriege hervorbringt. Die Geschichte hat uns recht gegeben.

Für Frieden und Sozialismus stand die Mauer 28 Jahre lang auf dem Boden Berlins. Sie teilte eine historisch gewachsene Stadt und war durchaus kein Schmuckstück. Es wäre gewiß besser gewesen, hätte es ihrer nicht bedurft. Doch sie nachträglich als Anachronismus zu bezeichnen zeugt von Unkenntnis der geschichtlichen Zusammenhänge. Ihre Errichtung entsprach den Erfordernissen der Zeit. Der Mauerfall hat zum Kriegsfall geführt.

Übrigens: Der eingangs erwähnte Interviewer der „New York Times“ hat meine Darstellung des Geschehens fair und korrekt in seinen Text aufgenommen.