RotFuchs 226 – November 2016

Vom Versagen des Parlamentarismus
in der Systemkrise

Jobst-Heinrich Müller

Am 14. Juli 2016 beging die Französische Republik im Andenken an den Sturm auf die Bastille von 1789 ihren Nationalfeiertag – und wurde erneut zum Ziel eines islamistisch motivierten Anschlags mit vielen zivilen Opfern. Bei einer anschließenden Trauerfeier hat man Vertreter der sozialdemokratischen Regierung Hollande wegen ihrer Unfähigkeit, diese Anschläge trotz des fortbestehenden Ausnahmezustands zu verhindern, ausgebuht.

Seit Beginn der Attentatswelle reagieren nicht nur in Frankreich Politiker fast aller Parteien unisono in Pawlowscher Reflexmanier: Bei jedem neuen Ereignis wird der Ruf nach verschärften ordnungsrechtlichen Maßnahmen im Innern und verstärkten militärischen Einsätzen im Ausland lauter. Die bürgerlichen Parteien buhlen damit um die Wählergunst der vermeintlichen „Mitte“. Sie versuchen, von den Folgen der imperialistischen Systemkrise abzulenken sowie wachsende Ängste, Haß und Unsicherheitsgefühle einer durch gezielte Befragungen generierten Mehrheit wahltaktisch zu kanalisieren und zu instrumentalisieren, wobei sie diese politisch und medial noch weiter anstacheln.

Das begünstigt die Verbreitung faschistoider, rassistischer und chauvinistischer Ansichten und den Aufstieg entsprechender Parteien.

Eine immer schnellere Folge nicht kalkulierbarer, gefährlicher Ereignisse und das politische Versagen des bürgerlichen Parlamentarismus radikalisiert viele nach rechts. Nicht wenige resignieren, werden nicht nur zu politikverdrossenen Nichtwählern, sondern schließlich auch zu Demokratieverächtern. So haben die britischen Parteien statt eines EU-Ausstiegs als Chance für sozialen Wandel („Lexit“) einen harten kapitalistisch-nationalistischen „Brexit“, der den Zusammenhalt des Unionsstaates gefährdet, durchgepaukt. In der Türkei wendete die AKP einen angeblichen Putschversuch mit unabsehbaren Folgen für die EU und die Kriegsregion in einen Triumphzug für Erdoğans Präsidialverfassung.

Daß auch hierzulande seit Jahrzehnten Bürgerrechte abgebaut werden, Staatsgewalt ausgeweitet und gestärkt wird, Kriegseinsätze forciert und vorbereitet werden, akzeptieren viele widerstandslos als „Lauf der Welt“. Auch in der pluralistischen Vielfalt der PDL werden Stimmen, die derartige Überzeugungen verfechten und diese auch umsetzen möchten, gepflegt, wenn damit Regierungsbeteiligung zu bekommen ist. Daran ändert leider auch der Verlauf des Magdeburger Parteitags wenig. Bodo Ramelow und seine Leute traten eiligst für ein „Entgegenkommen“ und für „Kompromisse“ in Sachen NATO und für eine Koalition mit der von Abstiegsnöten geplagten SPD ein. Wie bei den Grünen Winfried Kretschmann, so darf sich auch Bodo Ramelow gegen Parteimehrheit und Programm der Reaktion anbiedern. Trotzdem verliert auch seine Partei Wähler an die AfD.

In der Tyrannei kommt man durch Kritik zu Schaden, in der bürgerlichen Demokratie, wenn man widerspruchslos bleibt! Das repräsentative parlamentarische Demokratie-System – 1792 mit der Französischen Republik entstanden – ist die bevorzugte Herrschaftsform der Bourgeoisie. Babeuf und die „Enragees“, welche die Eigentumsfrage mit den Worten „Was nützt einem armen Mann ein Stimmzettel?“ stellten, wurden 1797 hingerichtet. Bis auf den heutigen Tag bleiben die Verheißungen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in der „westlichen Wertegemeinschaft“ von NATO und EU hehre und nützliche Parolen, oft um das Gegenteil zu kaschieren. Darum wäre eine linke Parlamentarismuskritik, wie es sie in den Jahren der westdeutschen Studentenbewegung an den Hochschulen gab, heute nötiger denn je. Ekkehard Lieberam liefert dazu mit der Broschüre „Integrationsfalle (Mit-)Regieren“ einen aktuellen Beitrag mit historischen Beispielen.

1971 und 1972 erschien das zweiteilige Grundlagenwerk des Marburger Politologen Prof. Reinhard Kühnl „Formen bürgerlicher Herrschaft“. Auf der Grundlage der Erkenntnisse von Marx und Engels bietet er eine historische Darstellung und Untersuchung der ganzen Palette des realpolitischen Wandels dieser bürgerlichen Staatsform bis hin zur faschistischen „Volksgemeinschaft“. Hier erfährt man von den „Fallstricken“ (Engels) parlamentarischer Bürokratie, von Ausgrenzungs- und Integrationsmethoden gegen revolutionäre Parteien. Die PDL lebt und verändert sich in diesem Milieu, dessen „Sachzwänge“ schon die SPD und die Grünen bis zur Unkenntlichkeit verbogen haben. Ein guter Grund, aus der Geschichte zu lernen!