RotFuchs 202 – November 2014

Bitterfelder Konzerne belieferten
Wilhelm II. und Hitler mit Giftgas

Von Blau- und Gelbkreuz zu Zyklon B

Kurt Menzel

Am ersten weltweiten Krieg waren sämtliche entwickelten Industriestaaten beteiligt. Zum ersten Mal in der Geschichte wurden die gewaltigsten Errungenschaften der Technik in solchen Ausmaßen, so zerstörerisch und mit solcher Energie zur Massenvernichtung von Millionen Menschen verwendet. Drastisch zeigte sich der wachsende Stellenwert der Industrie für Zwecke des Militärs und der Kriegsführung.

Als der deutsche Imperialismus in seinem abenteuerlichen Drang nach einer Neuaufteilung der Welt das Völkermorden auslöste, hatte er nur eine kurze Auseinandersetzung ins Auge gefaßt. Nach dem Scheitern seiner Überrumpelungsstrategie mußte er der ökonomischen Sicherung eines länger währenden, überaus materialaufwendigen Krieges seine volle Aufmerksamkeit widmen. Bereits nach wenigen Wochen hing nicht nur bei den Mittelmächten, sondern auch auf seiten der Entente der Munitionsverbrauch an den Fronten und damit die Kampffähigkeit der Streitkräfte von der laufenden Produktion ab. Der Krieg zwang alle Beteiligten zu komplexen Veränderungen in der Wirtschaft.

Außer dem riesigen Bedarf an Rüstungsmaterial verschärfte kurz nach Kriegsbeginn ein weiterer, zu wenig ins Kalkül gezogener Faktor die Lage Deutschlands. Die Entente verband seit November 1914 in ungleich wirksamerer Weise als die Mittelmächte den militärischen Kampf mit einem ökonomischen. Durch die Sperrung des Zugangs zu den Weltmeeren und die Behinderung des Handels mit und über neutrale Länder konnte sie eine weitgehende Isolierung Deutschlands von der hochentwickelten internationalen Arbeitsteilung und dem Warenaustausch erreichen. Noch stärker als der Wegfall des Exports – bei Fertigwaren immerhin etwa ein Drittel des Erzeugten – wirkte sich der Mangel an importierten Rohstoffen aus.

Die Erfordernisse des Krieges zwangen das kaiserliche Deutschland zu einer umfassenden wirtschaftlichen Mobilmachung mit dem Ziel, die industrielle Produktion maximal für militärische Zwecke zu nutzen.

1914 stand die deutsche Wirtschaft den ökonomischen Anforderungen dieses bis dahin größten und verheerendsten aller Kriege zwar relativ gut, aber nahezu unvorbereitet gegenüber. Mit Kriegsbeginn schieden 13 % aller Beschäftigten aus dem Produktionsprozeß aus.

Das Ernährungsniveau, gemessen in Kalorien, wurde halbiert. Die Reallöhne der in den Fabriken beschäftigten Arbeiter sanken auf den Stand von 1850/1854. Sie lagen damit um 30 % unter denen von 1913. Die Produktion der deutschen Volkswirtschaft fiel auf das Niveau der Jahrhundertwende zurück.

Im folgenden soll über die Kriegsrüstung im Kreis Bitterfeld berichtet werden.

Nach Angaben des Gewerbeaufsichtsamtes wurden Schießbaumwolle (Treibladungen und Schießpulver), Nitrolit, Chlorate (Explosiv- und Sprengmittel), Perchlorate (brandfördernde Mittel in Sprengstoffen), Salpeter (in Form von Säuren und Salzen als Grundmaterie für Sprengstoffe), Phosgen (chemischer Kampfstoff) sowie Aluminium, Magnesium, ein Leichtmetall für die Luftfahrt- und Automobilindustrie, das Nachrichten- und Fernmeldewesen produziert.

Man konzentrierte sich auf einen neuen Sprengstoff. Am 16. 11. 1914 teilte die Farbenfabrik Wolfen der Regierung in Merseburg mit: „Wir haben von der Heeresverwaltung einen Auftrag zur Herstellung eines neuen Sprengstoffes erhalten.“

Dieser hieß Nitrolit und gehörte zu den Dynamiten. Ab April 1915 konnte die Produktion beginnen. Sie lag zwischen 4000 und 4800 Tonnen im Jahr. Der Werkleiter der Farbenfabrik Wolfen teilte am 18. 9. 1915 der AGFA-Zentrale in Berlin mit, daß „Nitrolit der einzige in großem Maßstab von uns fabrizierte Sprengstoff ist“.

In seiner Aufstellung verschwieg das Gewerbeaufsichtsamt bewußt die Produktion anderer Kampfstoffe, welche in der Chemiefabrik Griesheim-Elektron Bitterfeld (CFGE) und in der zum AGFA-Konzern gehörenden Farbenfabrik Wolfen hergestellt wurden. Das Kaiserreich führte seit dem 22. April 1915 mit ihnen verschiedene Arten von Gaskrieg. Dabei fanden auch solche Stoffe Verwendung, die in Bitterfeld und Wolfen hergestellt wurden. 1919 forderten Politiker, Mediziner und andere prominente Wissenschaftler vieler Staaten, Deutschland wegen des Ersteinsatzes chemischer Kampfmittel vor ein internationales Gericht zu stellen. Der Ruf verhallte, zumal auch die Armeen der Entente nach dem deutschen Gasangriff solche Stoffe einsetzten.

Inzwischen gewinnt man aus Akten der Chemiefabrik Griesheim-Elektron Bitterfeld und der Farbenfabrik Wolfen, eines AGFA-Betriebes, sowie aus dem Buch von Dieter Martinetz „Der Gas-Krieg 1914–1918“ neue Einsichten über die spezifische Rolle von Werken des Kreises Bitterfeld.

Der erste Gasangriff, den das deutsche Heer mit Chlor unternahm, erfolgte am 22. 4. 1915 im Raum des belgischen Ypern. Hier wurde aus 6000 Stahlflaschen 5 Minuten lang Chlorgas gegen französische und kanadische Infanterie abgeblasen. Ein englischer Feldgeistlicher notierte als Augenzeuge: „Wir wollten unseren Augen kaum trauen. Eine graugrüne Wolke schwebte heran, die sich allmählich gelb färbte und alles, was sie berührte, zerstörte, auch den Pflanzenwuchs vernichtete. Kein Mensch hatte mit einer solchen Gefahr gerechnet. Die französischen Soldaten taumelten uns entgegen. Sie waren blind, husteten, keuchten, ihre Gesichter waren blau angelaufen. Vor Todesangst waren sie sprachlos. An diesem Tag starben 4500 Männer qualvoll, und 15 000 weitere gingen der Truppe wegen Gasvergiftungen verloren.“

Nach Beginn der chemischen Massenangriffe im Westen und Osten wurde Chlor zu einem wichtigen Bestandteil der deutschen Kriegstechnik. Von den Armeen Frankreichs, Rußlands, Großbritanniens und der USA wurden danach ebenfalls Massenangriffe unter Einsatz auch anderer chemischer Substanzen gegen die deutschen und österreichischen Armeen unternommen.

Hauptlieferanten von Flüssigchlor waren auf seiten Deutschlands die Chemische Fabrik Griesheim-Elektron in Bitterfeld mit 34 500 t, die Badischen Anilin- und Sodafabriken Ludwigshafen (BASF) mit 23 600 t und die Firma Bayer Leverkusen mit 14 047 t.

Als drittgrößter Chlorerzeuger im 1. Weltkrieg galt auch der Bitterfelder Betrieb des Salzbergwerks Neu-Staßfurt, obwohl er in der umfangreichen Literatur zum Krieg mit chemischen Kampfmitteln kaum Erwähnung findet.

Bereits Ende 1914/Anfang 1915 übernahm die Chemische Fabrik Griesheim-Elektron (CFGE) die Vorbereitungen zur Herstellung von Phosgen, genannt „Grünkreuz“ – einem Kampfstoff, der sowohl allein als auch durch Beifügung zu Chlor einsetzbar war.

Das Gewerbeamt bei der Regierung in Merseburg erklärte am 6. 9. 1915 schriftlich, daß gegen die Genehmigung zum Betrieb der Phosgen-Fabrik in Bitterfeld nichts einzuwenden sei. Doch bereits sieben Tage zuvor hatte die CFGE von der Pionierabteilung beim Kriegsminister den Auftrag zur Produktion von Phosgen mit dem Zusatz von flüssigem Chlor erhalten. Das fertige Gemisch war zunächst in Kesselwagen der Eisenbahn an verschiedene Stellen weiterzuleiten, wo es dann für den militärischen Einsatz in Trägermittel (Flaschen, Granaten, Minen u. a.) gefüllt wurde. Der Arzt des 35. Gaspionierregiments, Alfred Schroth, beschrieb die Wirkungen eines Phosgen-Angriffs so: „All jene Fälle aber, die wir zwei oder drei Stunden nach dem Angriff in Stellung durch den Tod verlieren, bieten einen Anblick größten Entsetzens. Atemnot und Hustenreiz steigern sich bis zum Erstickungsanfall. Der anfangs zähe und spärliche Auswurf macht einem dünnflüssigen und schaumigen Auswurf Platz, der allmählich blutig gefärbt ist und schließlich aus der Nase herausquillt. Das Aussehen der Vergifteten wirkt verfallen, und es tritt infolge Lungenödems der Tod bei fast vollem Bewußtsein ein.“

Phosgen wurde durch die deutschen Truppen erstmals am 31. Mai 1915 im Mischungsverhältnis 20 : 80 mit Chlor an der Bzura bei Bolimow in der Nähe Warschaus – der sogenannten Ostfront – aus 12 000 Flaschen abgeblasen. Dadurch fanden 1101 russische Soldaten einen qualvollen Tod, während 8934 weitere vergiftet wurden.

Ein Gasangriff des deutschen Heeres mit Phosgen und Chlor fand am 19./20. 0ktober 1915 bei Reims in Frankreich statt. Es wurden 500 000 kg Kampfstoff aus 25 000 Gasflaschen abgeblasen. Der mörderischste Angriff erfolgte am 29. Juni 1916 bei Doberdo, wo 5000 italienische Soldaten umkamen.

Neben dem Aufbau der Phosgenfabrik wurde im September 1915 bei der CFGE auch die bereits vorhandene Chloratfabrik zur Herstellung von Sprengstoffen, Explosiv- und Zündmitteln erweitert.

Die Unternehmen, welche an der Herstellung von chemischen Kampfstoffen beteiligt waren, arbeiteten auf diesem Gebiet – wenn auch nicht ohne Konkurrenzkampf – zusammen. Die zentrale Koordinierung der vom Kriegsministerium geforderten Mengen erfolgte durch Carl Duisberg, Mitbegründer der „Interessengemeinschaft der deutschen Teerfabriken“, aus denen 1915 die IG Farbenindustrie AG entstand.

Mitte des Jahres 1917 gelangte ein völlig neues Giftgas zum Einsatz: das deutsche „Blaukreuz“, das auch unter dem Namen Clark 1 bekannt wurde. In Form feinster Schwebestoffteilchen war es dazu in der Lage, die Atemschutzfilter der Gasmasken zu durchdringen und die Betroffenen zu deren Herunterreißen zu zwingen.

Die Symptome begannen mit einem Niesreiz und einer starken Sekretabsonderung. Hustenreiz und Atemnot schlossen sich an. Die einsetzenden Kopfschmerzen steigerten sich ins Unerträgliche. Diese Erscheinungen wurden von Brustschmerzen sowie Übelkeit begleitet, die bald zum Erbrechen führte. Schwindel, Schwäche und ein ausgeprägtes Muskelzittern kamen hinzu.

Clark I und der nachfolgende Giftstoff Clark II wurden in Deutschland von den Chemiefirmen Höchst, AGFA Wolfen und Cassella zwischen März 1917 und November 1918 produziert. Die Gesamtproduktion von Clark I betrug 8037 t, die von Clark II insgesamt 3263 t.

Die Herstellung von Clark II begann spätestens im Februar 1918 in Wolfen, denn bis zum 6. März d. J. wurden bereits 18 404,5 kg davon an die Blausäure-Füllstelle der kaiserlichen Gas-Truppen ausgeliefert.

Die Farbenfabrik Wolfen war an der deutschen Gesamtproduktion mit 1725 t Clark I (21,5 %) und 1045 t Clark II (32,0 %) beteiligt. Sie erfolgte bis Kriegsende.

Nur wenige Tage nach dem ersten Einsatz von „Blaukreuz“ setzte Deutschland den Kampfstoff „Gelbkreuz“ oder Lost ein. Aufgrund des schwach meerrettichartigen Geruches nannten ihn die Engländer „mustard gas“ (Senfgas), aufgrund seiner drastischen Wirkungen auch „hun stuff“ (Hunnenstoff), während die Franzosen ihn nach dem Einsatzort „Yperite“ bezeichneten. Das Vergiftungsbild von „Gelbkreuz“ wurde folgendermaßen beschrieben: „Erst nach sechs Stunden traten die ersten Vergiftungserscheinungen zutage. Heftige Bindehautentzündungen mit Lichtscheuheit verwandelten die Vergifteten vorübergehend in Blinde. Eine brennende Blasenbildung beschränkte sich nicht nur auf die unbedeckten Körperteile, sondern setzte sich unter den Kleidern fort und ließ nur jene Teile unberührt, welche von dem Gürtel und den Hosenträgern bedeckt waren. Die Beschädigung der Lungen verbunden mit Dysphonie (Störungen der normalen Stimmbildung) vervollständigten das klinische Bild.“

Bei der Obduktion von Lost-Opfern fand man starke Schwellungen an Kehlkopf und Stimmbändern. Die Luftröhre war mit einer dünnen, schaumigen Flüssigkeit angefüllt, die Lunge selbst wog das Doppelte des Normalgewichts und fühlte sich fest und kompakt an. Teile der Lungenflügel versanken in Wasser, das Herz hatte ebenfalls das Doppelte des Normalgewichts, und die Venen über der Gehirnoberfläche enthielten unzählige Gasbläschen.“ Wenngleich der Anteil der durch Lost zu Tode Gekommenen sowie von Dienst- oder Arbeitsuntauglichkeit Betroffenen „nur“ etwa 1,8 bis 2,5 % ausmachte, waren monatelange Krankheit und erst Jahre nach dem Krieg auftretende Folgeerkrankungen und Spätwirkungen (Krebs) feststellbar.

Am 15. Februar 1918 übernahm Dr. Geldermann von der Farbenfabrik Wolfen spezielle Aufgaben zur weiteren Entwicklung des Kampfstoffes Delost, wie der Tarnname des Kampfstoffes Lost lautete, der aus Ethylen und Schwefeldichlorid erzeugt wurde.

Noch Ende Oktober 1918 erhielt die AGFA-Fabrik Wolfen/Greppin den Auftrag für eine monatliche Produktion von 500 t.

Abschließend sei vermerkt, daß in der Farbenfabrik Wolfen während des Krieges mindestens 15 Testverbindungen für Reiz- und Wirkstoffe entwickelt wurden, die mögliche Grundlagen für weitere chemische Kampfstoffe bildeten.

In der Literatur zu deren Einsatz wird davon ausgegangen, daß mindestens 150 000 t produziert wurden, von denen etwa 125 000 t zur Anwendung gelangten. Deutschland dürfte an den erzeugten und versprühten Mengen mit mehr als der Hälfte beteiligt gewesen sein.

Nach Angaben aus den 30er Jahren betrug die Anzahl der Gasvergifteten zwischen 1 008 838 und 1 296 853 Personen, die Zahl der Gastoten 79 190 bis 91 198. Für Deutschland werden 78 663 bis 107 000 Gasgeschädigte angegeben, von denen 2280 bis 4000 starben.

Übrigens setzten die Bosse des Bitterfelder Chemiereviers ihr profitables Geschäft mit dem Tod auch in der Zeit des 2. Weltkrieges fort. In den 40er Jahren entwickelte und produzierte die Farbenfabrik Wolfen das Blausäuregas Zyklon B, durch das in Auschwitz und anderen Vernichtungslagern der deutschen Faschisten Millionen Menschen – vor allem Juden, Sinti und Roma, aber auch Angehörige vieler Völker Europas – grausam ermordet worden sind.