RotFuchs 217 – Februar 2016

Wahrheiten des Hauptmanns Tregubow

RotFuchs-Redaktion

Am 19. November 1948 erschien in der Tageszeitung „Neues Deutschland“ der Artikel ihres zeitweiligen Chefredakteurs Rudolf Herrnstadt „Über die Russen und über uns“. Der RF berichtete bereits darüber. Der Autor ging von zwei Feststellungen aus: 1. Es gibt für die deutsche Arbeiterschaft keine Orientierung im Klassenkampf, keine Überwindung der materiellen und ideologischen Schwierigkeiten, keinen Weg zum Sozialismus ohne richtige Einschätzung der Rolle der Sowjetunion, ohne rückhaltloses Bekenntnis zu ihr, ohne uneingeschränkte Unterstützung der UdSSR. 2. Sogar die Einstellung der SED zur Sowjetunion, also des fortschrittlichsten Teils der deutschen Arbeiterbewegung, ist in dieser Frage nicht frei vom Einfluß des Gegners. Die Folge besteht bis heute darin, daß allein das Thema von Teilen der Partei als „Belastung“ empfunden wird.

Generaloberst Nikolai E. Bersarin – hier im Mai 1945 – war Berlins erster sowjetischer Stadtkommandant.

Rudolf Herrnstadts Artikel löste in der sowjetischen Besatzungszone lebhafte Debatten aus. An zwei Diskussionsabenden wurde im großen Saal des Berliner Hauses der Kultur der Sowjetunion – dem späteren Maxim-Gorki-Theater – über diesen Artikel stürmisch diskutiert. Am 7. Januar 1949 erteilte der Gesprächsleiter Prof. Peter Alfons Steiniger dem sowjetischen Hauptmann Tregubow das Wort. Angesichts der Greueltaten der deutschen Faschisten an der sowjetischen Bevölkerung und der Verwüstung weiter Landesteile der UdSSR zeigte dieser menschliche und politische Größe. Hier einige Ausschnitte aus seinen Ausführungen:

„… In der Diskussion über die ‚Russen und über uns‘ möchte ich zu Ihnen als ein Vertreter jener Nation sprechen, die heute hier zur Debatte steht. Aber ich möchte das Thema so formulieren: ,Über die Deutschen und über uns.‘ Ich hoffe, daß Sie mir das gestatten. Wie ich aus der Diskussion ersehe, ist die Problemstellung für Sie erst im Mai 1945 entstanden. Für uns aber ist das Problem ‚Die Deutschen und wir‘ bereits am 22. Juni 1941, als Hitlerdeutschland wortbrüchig die Völker der Sowjetunion überfiel, akut geworden. Tatsächlich entstand es für uns noch früher, nämlich an jenem Tage, als auf dem Opernplatz in Berlin die Bücherverbrennungen stattfanden, als Werke von Thomas Mann und Maxim Gorki, Marx und Lenin den Flammen zum Opfer fielen, ja überhaupt seit dem Tag des Machtantritts der Hitleristen.

Ich bin seit dem 22. Juni 1941 in der Sowjetarmee und weiß sehr gut, welche Gedanken die russischen Soldaten und Offiziere am Tage des Überfalls hatten. Jeder von uns wußte, daß der Hitlerismus alle demokratischen Kräfte Deutschlands zerschlug. Aber jeder von uns glaubte, daß die Arbeiter und Bauern Deutschlands doch nicht gegen die Macht der Arbeiter und Bauern in der Sowjetunion kämpfen würden.

Mich, den einfachen Soldaten der Roten Armee von 1941, haben die deutschen Arbeiter und Bauern sehr enttäuscht. Nehmen Sie mir das nicht übel! Sie haben mich gezwungen, vier Jahre hindurch ununterbrochen die Waffe nicht aus der Hand zu legen. Vier Jahre lang dauerte der grausame Krieg, der durch den deutschen Hitlerismus entfesselt worden war. Vier Jahre lang floß das Blut von Millionen sowjetischer Menschen. Vier Jahre lang und noch heute weinten und beklagten Millionen russischer Frauen ihre Männer, Brüder und Kinder. Kein Land, welches von den Hitlerhorden überfallen wurde, hat so große Verluste erlitten wie meine Heimat und mein Volk. Ungeheure Anstrengungen kostete uns der Sieg über Hitlerdeutschland. Die Faschisten zerstörten 1710 sowjetische Städte, über 70 000 Kleinstädte und Dörfer. Sie zerstörten mehr als sechs Millionen Häuser und machten damit 25 Millionen sowjetische Menschen obdachlos. Der Schaden, welcher der Volkswirtschaft und den Bürgern der UdSSR zugefügt wurde, überstieg die Summe von 128 Mrd. Dollar. Aber kann man den Wert des Lebens der Millionen und aber Millionen Gefallenen, der Wunden und des Blutes der Verstümmelten und des Leids der Hinterbliebenen ermessen?!

Diese großen Opfer waren der Preis für den Sieg über den Faschismus. Die Rote Armee rettete nicht allein das eigene Land und dessen Menschen vor dem sicheren Untergang, sondern auch andere Länder und Völker, darunter das deutsche Volk. Wäre die Sowjetarmee 1945 nicht nach Deutschland gekommen, hätten sehr viele der hier Anwesenden den Tod in den Konzentrationslagern gefunden.

Doch seit dem ersten Tag des Krieges unterschieden die Russen, zu denen auch ich gehöre, zwischen dem Hitlerstaat und dem deutschen Volk. Wir kämpften gegen die Hitleristen, gegen den Hitlerismus, aber nicht gegen das deutsche Volk, nicht gegen seine Kultur, nicht gegen seine demokratischen Traditionen und seine nationale Souveränität. Die Sowjetarmee zerschlug den Faschismus und schuf dadurch die Voraussetzungen für den Aufbau eines neuen demokratischen Deutschlands.

Was war das für ein Soldat, der im Mai 1945 nach Berlin kam? War das ein Tourist, oder kam er etwa auf Einladung der Deutschen dorthin? Nein, das war ein Soldat, der 3000 Kilometer verbrannter sowjetischer Erde hinter sich gelassen hatte. Er zog vielleicht an seiner eigenen Heimatstadt vorbei, wo er sein Haus und seine Angehörigen nicht mehr fand. Seine Braut war vielleicht als Sklavenarbeiterin nach Deutschland verschleppt worden. Dieser Soldat befreite nicht nur seine Braut, sondern auch einen Teil der Deutschen, die zwölf Jahre lang Sklaven waren.

Die Schreiberlinge bei den Zeitungen „Kurier“, „Telegraf“ und ähnlichen Tagesspiegeln, die sich mit Hetze beschäftigen, regen sich gar nicht darüber auf, daß jemand bei den Kriegshandlungen die Uhr abhanden gekommen ist, sondern sie regen sich darüber auf, daß dank der Sowjetarme in einem Teil Deutschlands den Kriegsverbrechern und Großindustriellen ihre Werke und den Großagrariern ihre Güter abgenommen und dem deutschen Volk übergeben wurden!

Wir Russen ließen uns niemals von den Gefühlen des Hasses und der Rache leiten. Unser Volk will vergessen und hat schon fast alles vergessen, was uns Deutsche angetan hatten. Unser Volk führt einen hartnäckigen Kampf für die Einheit, die Souveränität und die Demokratie Deutschlands. Lesen Sie eine x-beliebige sowjetische Zeitung oder Zeitschrift! Hören Sie unseren Rundfunk! Sie werden dort keine Spur des Hasses gegen das deutsche Volk finden.

Kübel von Schmutz einer verleumderischen Propaganda aber werden Tag für Tag über das Sowjetvolk ausgegossen. Dieselben faschistischen Kräfte sind noch am Werk. Aber ich glaube, daß für die Mehrheit des deutschen Volkes klar ist: Wie sich auch der Faschismus tarnen möge, wie er sich kleiden und wie er heißen mag – daß er doch immer abscheulich und völkerfeindlich bleibt. Dieses Gift ist sogar in homöopathischen Dosen gefährlich und, wie Sie wissen, verabfolgen es manche dem deutschen Volk sogar eimerweise. Gegen solches verbrecherisches Tun muß es Stellung nehmen, wenn es für den Frieden sein will.

Früher pflegte man zu sagen: Sag mir, mit wem du verkehrst, und ich sage dir, wer du bist. Heute kann man das in die Worte fassen: „Sag mir, wie du zu den Russen stehst, und ich werde dir sagen, wer du bist.“ (Stürmischer Beifall)